Es gibt die Langeweile der Sonne, wenn das Holz dorrt und die Erde dünner wird als im Kopf der Verstand, wenn die Wachhunde dösen, statt zu bellen. Und bevor das Gras ganz verdurstet ist, zieht sich der Himmel zu, dann gibt es die Langeweile am unteren Ende der Regenschnüre, bis das Holz quillt und die Schuhe im Schlamm kleben und die Kleider auf der Haut. Der Sommer quält sein Laub, der Herbst seine Farben, der Winter uns.
Es gibt die Langeweile des frischgefallenen Schnees mit Kohlestaub und des alten Schnees mit Kohlestaub, die Langeweile des alten Schnees mit Kartoffelschalen und des frischgefallenen Schnees ohne Kartoffelschalen. Die Langeweile des Schnees mit Zementfalten und Teerflecken, die mehlige Wolle auf den Wachhunden und ihr blechtiefes oder sopranhohes Gebell. Es gibt die Langeweile der tropfenden Rohre, ihre Eiszapfen wie Glasrettiche, und die Langeweile des plüschmöbeligen Schnees auf den Kellertreppen. Auch den Eiszwirn gibt es und sein haarnetziges Schmelzen auf den Schamottbröseln der Koksbatterien. Auch die Langeweile des klebrigen menschenversessenen Schnees gibt es, der uns die Augen verglast und die Wangen verbrennt.
Auf den breiten russischen Bahnstrecken gibt es den Schnee der Holztraversen, den Rostkranz der Schrauben, die eng beisammensitzen, zwei, drei oder gar fünf wie Schulterklappen mit verschiedenen Ranghöhen. Und am Bahndamm gibt es, wenn jemand umfällt, die Langeweile des Schnees mit dem Leichnam und seiner Schaufel. Kaum weggeräumt, hat man die Leiche vergessen, weil man in dickem Schnee den Umriss magerer Leichen nicht sieht. Nur die Langeweile einer verlassenen Schaufel. Man soll nicht in der Nähe der Schaufel sein. Wenn sich der Wind schwach hebt, fliegt eine Seele, mit Federn geschmückt. Wenn er stark ist, wird sie in Wellen getragen. Nicht nur sie, mit jedem Leichnam wird vermutlich auch ein Hungerengel frei und sucht sich einen neuen Wirt. Aber zwei Hungerengel kann keiner von uns ernähren.
Die Trudi Pelikan hat mir erzählt, dass sie und die russische Feldscherin mit Kobelian zum Bahndamm gefahren sind und die erfrorene Corina Marcu aufs Auto geladen haben. Dass die Trudi auf die Ladefläche gestiegen ist, um die Leiche nackt auszuziehen, bevor sie ins Grab kommt, dass die Feldscherin aber gesagt hat: Das machen wir später. Dass die Feldscherin mit Kobelian in der Kabine und die Trudi Pelikan mit der Leiche oben saß. Dass Kobelian nicht auf den Friedhof, sondern ins Lager fuhr, wo Bea Zakel in der Krankenbaracke wartete und mit ihrem Kind auf dem Arm vor die Tür trat, als sie das Auto brummen hörte. Dass Kobelian sich die tote Corina Marcu auf die Schulter lud und auf Weisung der Feldscherin nicht ins Sterbezimmer und nicht ins Behandlungszimmer trug, sondern ins Privatzimmer der Feldscherin. Dass er dort nicht wusste, wohin damit, weil die Feldscherin sagte: Warte. Dass ihm die Tote auf der Schulter zu schwer wurde und er sie an sich herunterrutschen ließ und auf den Boden stellte. Dass er sie an sich lehnte, bis die Feldscherin die Konservendosen in einen Eimer gerafft hatte und der Tisch frei war. Dass Kobelian die Tote ohne ein weiteres Wort auf den Tisch legte. Dass die Trudi Pelikan anfing, der Toten die Jacke aufzuknöpfen, weil sie glaubte, Bea Zakel warte auf die Kleider. Dass die Feldscherin sagte: Erst die Haare. Dass Bea Zakel ihr Kind hinter den Holzverschlag zu den anderen Kindern sperrte. Dass das Kind solange an die Holzwand trat und schrie, bis auch die anderen Kinder schriller mitschrien, so wie Hunde schriller mitbellen, wenn einer anfängt. Dass Bea Zakel die Tote am Kopf über den Tischrand zog, bis ihre Haare herunterhingen. Dass Corina Marcu wie durch ein Wunder noch nie kahlgeschoren worden war und die Feldscherin sich jetzt die Haare mit der Nullerschere abschor. Dass Bea Zakel sie ordentlich in ein Holzkistchen legte. Dass die Trudi wissen wollte, wozu das gut ist, und die Feldscherin sagte: Für Fensterkissen. Dass die Trudi fragte: Für wen, und Bea Zakel sagte: Für die Schneiderei, der Herr Reusch näht uns Fensterkissen, Haare halten den Luftzug ab. Dass die Feldscherin sich die Hände mit Seife wusch und sagte: Ich habe Angst, dass man sich langweilt, wenn man tot ist. Dass Bea Zakel darauf mit einer ungewöhnlich hohen Stimme sagte: Mit Recht. Dass Bea Zakel dann zwei leere Blätter aus dem Krankenregister riss und das Holzkistchen abdeckte. Dass sie mit dem Kistchen unterm Arm aussah, als hätte sie im Laden des Russendorfs eine verderbliche Ware gekauft. Dass sie nicht auf die Kleider wartete, sondern mit dem Kistchen verschwand, bevor die Tote fertig ausgezogen war. Dass Kobelian zu seinem Auto ging. Dass es dauerte, bis die Tote nackt war, weil die Trudi den guten Pufoaika-Anzug nicht zerschneiden wollte. Dass bei dem Gezerre eine Katzenbrosche aus der Jackentasche der Toten neben den Eimer auf den Boden fiel. Dass die Trudi Pelikan sich nach der Brosche bückte und im Eimer auf einer der glänzenden Konservendosen das Gedruckte buchstabierte: CORNED BEEF. Dass sie ihren Augen nicht traute. Dass die Feldscherin, während sie noch buchstabierte, die Brosche aufhob. Dass die ganze Zeit das Auto draußen brummte und nicht wegfuhr. Dass die Feldscherin mit der Katzenbrosche in der Hand hinausging und mit leerer Hand wiederkam und sagte: Kobelian sitzt am Steuer, sagt immer Großer Gott und heult.
Die Langeweile ist die Geduld der Angst. Sie will ja nicht übertreiben. Nur manchmal, und darum geht es ihr besonders, will sie wissen, wie es mit mir steht.
Ich könnte ein Stück gespartes Brot aus dem Kissen essen, mit bisschen Zucker oder Salz. Oder meine nassen Fußlappen auf der Stuhllehne neben dem Ofen trocknen. Das Holztischchen wirft einen längeren Schatten, die Sonne hat sich gedreht. Im Frühjahr, im nächsten Frühjahr organisiere ich mir vielleicht zwei Gummistücke vom Förderband aus der Fabrik oder von einem Autoreifen aus der Garage. Dann bringe ich sie zum Schuster.
Als erste hat Bea Zakel im Lager Ballettki getragen, schon im vorigen Sommer. Ich kam zu ihr in die Kleiderkammer, ich brauchte neue Holzschuhe. Ich wühlte herum in dem Schuhhaufen, und Bea Zakel sagte: Ich habe nur zu große oder zu kleine, Fingerhüte oder Schiffe, die mittleren sind alle weg. Ich probierte viele, um länger zu bleiben. Zuerst entschied ich mich für kleine, dann fragte ich, wann wieder mittlere kommen. Dann behielt ich zwei große. Bea Zakel sagte: Zieh sie gleich an, lass die alten hier. Schau, was ich hab, Ballettki.
Ich fragte: Woher.
Sie sagte: Vom Schuster. Schau, die biegen sich wie barfuß.
Was kosten sie, fragte ich.
Sie sagte: Das musst du Tur fragen.
Die Gummistücke gibt Kobelian mir vielleicht umsonst. Sie müssten mindestens so groß wie zwei Schaufelblätter sein. Für den Schuster brauche ich Geld. Ich müsste Kohle verkaufen, solang es noch kalt ist. Im Sommer, im nächsten Sommer zieht die Langeweile vielleicht die Fußlappen aus und trägt die Ballettki. Dann läuft sie wie barfuß.
Ersatzbruder
Anfang November ruft Tur Prikulitsch mich in seine Dienststube.
Ich habe Post von zu Hause.
Vor Freude tickt mein Gaumen, ich krieg den Mund nicht zu. Tur sucht im halboffenen Schrank in einer Schachtel. An der geschlossenen Schrankhälfte klebt ein Bild von Stalin, hohe graue Backenknochen wie zwei Abraumhalden, die Nase imposant wie eine Eisenbrücke, sein Schnauzbart wie eine Schwalbe. Neben dem Tisch dubbert der Kohleofen, darauf summt ein offener Blechtopf mit Schwarztee. Neben dem Ofen steht der Eimer mit Anthrazitkohle. Tur sagt: Leg mal bisschen Kohle nach, bis ich deine Post gefunden habe.