Manchmal glaube ich, ich bin vor hundert Jahren gestorben und meine Fußsohlen sind durchsichtig. Wenn ich mir im Kopf durch den hellen Türspalt schaue, geht es mir doch im Grunde nur um diese verbohrte scheue Hoffnung, dass irgendwann und irgendwo jemand an mich denkt. Auch wenn er nicht wissen kann, wo ich gerade bin. Kann sein, dass ich der alte Mann mit der Zahnlücke links oben auf einem Hochzeitsfoto bin, das es gar nicht gibt, und gleichzeitig ein mageres Kind auf einem Schulhof, den es auch nicht gibt. Und genauso bin ich der Rivale und Bruder eines Ersatzbruders, der mein Rivale ist, weil es uns beide gleichzeitig gibt. Aber auch ungleichzeitig, weil wir uns noch nie, also zu keiner Zeit, gesehen haben.
Und gleichzeitig weiß ich, was der Hungerengel als meinen Tod sieht, ist mir vorläufig noch nicht geschehen.
Schwarze Hunde
Ich komme aus dem Keller in den Morgenschnee, er blendet. Auf den Wachtürmen stehen vier Statuen aus schwarzer Schlacke. Die Statuen sind keine Soldaten, sondern vier schwarze Hunde. Aber die erste und die dritte Statue bewegen den Kopf, die zweite und die vierte bleiben starr. Dann bewegt der erste Hund die Beine und der vierte das Gewehr, und der zweite und der dritte bleiben starr.
Der Schnee auf dem Dach der Kantine ist ein weißes Leintuch. Wieso hat Fenja das Brotleintuch aufs Dach gelegt.
Die Kühlturmwolke ist ein weißer Kinderwagen, er fährt ins Russendorf zu den weißen Birken. Als mein weißes Taschentuch aus Batist schon den dritten Winter im Koffer lag, habe ich eines Tages beim Betteln an der Tür der alten Russin geklopft. Ein Mann in meinem Alter hat geöffnet. Ich habe gefragt, ob er Boris heißt. Er hat NJET gesagt. Ob eine alte Frau hier wohnt, habe ich gefragt. Er hat NJET gesagt.
In der Kantine gibt es jetzt bald Brot. Einmal, wenn ich allein am Brotschalter stehe, werde ich mich trauen und Fenja fragen: Wann fahr ich nach Hause, ich bin schon fast eine Statue aus schwarzer Schlacke. Fenja wird sagen: Du hast Schienen im Keller und einen Berg. Die Wägelchen fahren doch ständig nach Hause, fahr doch mit. Früher bist du doch gern mit dem Zug in die Berge gefahren. Da war ich aber noch zu Hause, werde ich sagen. Na siehst du, wird Fenja sagen, so wird es wieder sein.
Aber jetzt gehe ich durch die Kantinentür und stelle mich vor den Schalter in die Schlange. Das Brot ist mit dem weißen Schnee vom Dach zugedeckt. Ich könnte mich als Letzter anstellen, dass ich mit Fenja allein am Schalter bin, wenn ich mein Brot bekomme. Aber ich trau mich nicht, denn Fenja hat in ihrer kalten Heiligkeit wie jeden Tag drei Nasen im Gesicht, zwei sind die Schnäbel der Waage.
Löffel hin Löffel her
Es war wieder Adventszeit. Ich war verblüfft, in der Baracke auf dem kleinen Tisch stand mein Drahtbäumchen mit der grünen Tannenwolle. Der Advokat Paul Gast hatte es in seinem Koffer aufgehoben und dieses Jahr mit drei Brotkugeln geschmückt. Weil wir im dritten Jahr sind, sagte er. Er glaubte, man weiß nicht, dass er Brotkugeln spendieren kann, weil er seiner Frau das Brot stiehlt.
Seine Frau Heidrun Gast wohnte in einer Frauenbaracke, Ehepaare durften nicht zusammenwohnen. Die Heidrun Gast hatte schon das Totenäffchengesicht, das Schlitzmaul von einem Ohr zum andern, den weißen Hasen in den Dellen der Wangen und gequollene Augen. Sie war seit dem Sommer in der Garage und musste die Akkumulatoren der Autos füllen. Ihr Gesicht war von der Schärfe der Schwefelsäure noch löchriger als ihre Pufoaika.
In der Kantine sah man täglich, was der Hungerengel aus einer Ehe macht. Der Advokat suchte seine Frau wie ein Wächter. Wenn sie bereits zwischen anderen am Tisch saß, zog er sie am Arm und stellte ihre Suppe neben seine. Wenn sie kurz wegschaute, tauchte er den Löffel in ihr Geschirr. Wenn sie es merkte, sagte er: Löffel hin, Löffel her.
Das Bäumchen mit den Brotkugeln stand noch auf dem Tisch in der Baracke, und Heidrun Gast starb in diesem kaum angefangenen Januar. Die Brotkugeln hingen noch am Bäumchen, und Paul Gast trug schon den Mantel seiner Frau mit dem Bubikragen und den abgewetzten Taschenklappen aus Hasenfell. Und er ließ sich öfter als bisher rasieren.
Und Mitte Januar trug unsere Sängerin Ilona Mich den Mantel. Und der Advokat durfte bei ihr hinter die Decke.
In dieser Zeit fragte der Rasierer: Habt ihr zu Hause Kinder.
Der Advokat sagte: Ich.
Und wie viele, fragte der Rasierer.
Drei, sagte der Advokat.
Aus dem Rasierschaum starrten seine Augen gefroren zur Tür. Dort hing an einem Haken meine Wattekappe mit den Ohrenklappen wie eine geschossene Ente. Der Advokat schnaufte einen tiefen Seufzer, dass ein Schaumbatzen vom Handrücken des Rasierers auf den Boden flog. Und dort, wo er hinfiel, zwischen den Stuhlbeinen, standen die Gummigaloschen des Advokaten fast auf den Zehenspitzen. Sie waren unter der Sohle an die Knöchel gebunden mit glitzrigem, ganz neuem Kupferdraht.
Einmal war mein Hungerengel Advokat
Erzählt das nie meinem Mann, hat die Heidrun Gast gesagt.
Es war an einem Tag, als sie zwischen der Trudi Pelikan und mir sitzen konnte, weil der Advokat Paul Gast nicht zum Essen kam, seine Zähne eiterten. An dem Tag konnte die Heidrun Gast auch reden.
Sie erzählte, dass in der Decke zwischen der Autowerkstatt und der ausgebombten Fabrikhalle ein Loch so groß wie eine Baumkrone ist. In der Fabrikhalle oben wird Schutt geräumt. Manchmal liegt unten in der Werkstatt eine Kartoffel auf dem Boden, die ein Mann von oben für Heidrun Gast herunterwirft. Immer derselbe Mann. Heidrun Gast schaut zu ihm hinauf, und er schaut herunter. Reden können sie nicht, er ist oben auch so bewacht wie sie in der Werkstatt. Der Mann trägt eine gestreifte Pufoaika, er ist ein deutscher Kriegsgefangener. Letztes Mal lag eine sehr kleine Kartoffel zwischen den Werkzeugkisten. Es kann sein, dass Heidrun Gast sie gar nicht gleich gefunden hat und sie schon ein zwei Tage dort lag. Entweder hat der Mann sie schneller als sonst herunterwerfen müssen, oder sie ist, weil sie so klein war, weiter als sonst weggekullert. Vielleicht hat er sie auch absichtlich woanders hinwerfen wollen. Im ersten Moment war sich Heidrun Gast nicht sicher, ob sie wirklich von dem Mann oben ist und nicht vom Natschalnik hingelegt, um sie in die Falle zu locken. Sie stieß die Kartoffel mit der Schuhspitze halb unter die Treppe, dass man sie nur sehen konnte, wenn man wusste, dass sie dort liegt. Sie wollte abwarten, ob der Natschalnik sie nicht belauert. Erst vor Feierabend nahm sie die Kartoffel und spürte beim Aufheben, dass um sie herum ein Faden gebunden war. Wie immer hat die Heidrun Gast auch an dem Tag, so oft sie konnte, durch das Loch hinaufgeschaut, den Mann aber nicht mehr gesehen. Als sie am Abend in ihre Baracke kam, biss sie den Faden ab. Die Kartoffel war durchgeschnitten. Zwischen den Kartoffelhälften lag ein Tuchfetzen. ELFRIEDE RO stand darauf, ERSTRAS, ENSBU und ganz unten EUTSCHLA. Die anderen Buchstaben waren von der Kartoffelstärke gefressen. Als der Advokat nach dem Kantinenfraß in seine Baracke gegangen war, warf die Heidrun Gast den Fetzen in ein spätes Feuerchen im Hof und röstete die zwei Kartoffelhälften. Ich weiß, sagte sie, dass ich eine Nachricht gegessen habe, das war vor einundsechzig Tagen. Nach Hause durfte er bestimmt nicht, und gestorben ist er auf keinen Fall, er war noch gesund. Er ist vom Erdboden verschwunden, sagte sie, wie diese Kartoffel in meinem Mund. Er fehlt mir.