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In seiner Stimme hallte ein Echo. Einige fingen an zu weinen, die Luft stand glasig. Sein Gesicht war in den Wahn getaucht. Der Speichel auf seinem Jackett war glasiert. Da sah ich das Brustabzeichen, es war der Mann mit den Albatrosknöpfen. Er stand ganz allein und schluchzte mit einer Kinderstimme. Bei ihm geblieben war nur der versaute Schnee. Und hinter ihm die gefrorene Welt mit dem Mond wie ein Röntgenbild.

Die Lokomotive tutete einen einzigen dumpfen Ton. Das tiefste UUUH, das ich je gehört habe. Jeder drängte sich zu seiner Tür. Wir stiegen ein und fuhren weiter.

Den Mann hätte ich auch ohne Brustabzeichen erkannt. Ich habe ihn im Lager nie gesehen.

Meldekraut

Nichts, was wir hier im Lager bekommen hatten, hatte Knöpfe. Die Unterhemden, die langen Unterhosen hatten jeweils zwei Bändchen zum Verknoten. Das Kopfkissen hatte zweimal zwei Bändchen. In der Nacht war das Kopfkissen ein Kopfkissen. Am Tag war das Kopfkissen ein Leinwandsack, den man für alle Fälle, also fürs Stehlen und Betteln, bei sich trug.

Gestohlen haben wir vor, während und nach der Arbeit, nur nicht beim Betteln, das wir Hausieren nannten — und nicht vom Nachbar in der Baracke. Es war auch kein Stehlen, wenn wir nach der Arbeit auf dem Heimweg auf die Schutthalden ins Unkraut gingen und pflückten, bis das Kissen vollgestopft war. Schon im März hatten die Frauen vom Dorf herausgefunden, dass das Unkraut mit den gezackten Blättern LOBODǍ heißt. Dass man es im Frühjahr auch zu Hause gegessen hat wie wilden Spinat, dass es MELDEKRAUT heißt. Wir pflückten auch das Gras mit den gefiederten Blättern, es war wilder Dill. Voraussetzung war, dass man Salz hatte. Salz musste man sich auf dem Basar durch Tauschgeschäfte beschaffen. Es war grau und grob wie Schotter, man musste es noch klopfen. Salz war ein Vermögen wert. Wir hatten zwei Kochrezepte für das Meldekraut:

Die Meldekrautblätter kann man, gesalzen natürlich, roh essen, wie Feldsalat. Den wilden Dill fein zerrupfen und draufstreuen. Oder ganze Meldekrautstiele in Salzwasser kochen. Mit dem Löffel aus dem Wasser gefischt, ergeben sie einen berauschenden Falschen Spinat. Die Brühe trinkt man dazu, entweder als klare Suppe oder als grünen Tee.

Im Frühjahr ist das Meldekraut zart, die ganze Pflanze nur fingerhoch und silbergrün. Im Frühsommer ist sie kniehoch, ihre Blätter werden fingerig. Jedes Blatt kann anders aussehen, wie ein anderer Handschuh, ganz unten steht immer ein Daumen. Meldekraut so silbergrün, ist eine kühle Pflanze, ein Frühjahrsessen. Im Sommer musste man achtgeben, da wächst das Meldekraut rasch in die Höhe, wird dicht verzweigt, hartstielig und holzig. Es schmeckt bitter wie Lehmerde. Die Pflanze wird hüfthoch, um ihren dicken Mittelstiel bildet sich ein lockerer Strauch. Im Hochsommer färben sich Blätter und Stiele, fangen mit Rosa an, werden blut- und später blaurot und verdunkeln sich im Herbst bis ins tiefe Indigo. Alle Zweigspitzen kriegen Rispenketten aus Kügelchen wie bei den Brennesseln. Nur hängen die Rispen des Meldekrauts nicht, sie stehen schräg nach oben. Auch sie färben sich von Rosa zu Indigo.

Es ist seltsam, wenn sich das Meldekraut zu färben beginnt und längst ungenießbar ist, wird es erst richtig schön. Dann bleibt es geschützt von seiner Schönheit am Wegrand stehen. Die Zeit des Meldekrautessens ist vorbei. Aber nicht der Hunger, der immer größer ist als man selbst.

Was kann man sagen über den chronischen Hunger. Kann man sagen, es gibt einen Hunger, der dich krankhungrig macht. Der immer noch hungriger dazukommt, zu dem Hunger, den man schon hat. Der immer neue Hunger, der unersättlich wächst und in den ewig alten, mühsam gezähmten Hunger hineinspringt. Wie läuft man auf der Welt herum, wenn man nichts mehr über sich zu sagen weiß, als dass man Hunger hat. Wenn man an nichts anderes mehr denken kann. Der Gaumen ist größer als der Kopf, eine Kuppel, hoch und hellhörig bis hinauf in den Schädel. Wenn man den Hunger nicht mehr aushält, zieht es im Gaumen, als wäre einem eine frische Hasenhaut zum Trocknen hinters Gesicht gespannt. Die Wangen verdorren und bedecken sich mit blassem Flaum.

Ich wusste nie, soll man dem bitteren Meldekraut vorwerfen, dass man es nicht mehr essen kann, weil es verholzt und sich verweigert. Weiß das Meldekraut, dass es nicht mehr uns und dem Hunger dient, sondern dem Hungerengel. Die roten Rispenketten sind ein Geschmeide um den Hals des Hungerengels. Ab Frühherbst, wenn der erste Frost kam, schmückte sich das Meldekraut jeden Tag stärker, bis es erfror. Giftschöne Farben waren das, die im Augapfel stachen. Die Rispen, unzählige Reihen aus roten Halsketten, jeder Wegrand schmückte den Hungerengel. Er trug seinen Schmuck. Und wir trugen einen so hohen Gaumen, dass sich beim Gehen das Echo der Schritte im Mund überschlug. Eine Durchsichtigkeit im Schädel, als hätte man zu viel grelles Licht geschluckt. So ein Licht, das sich im Mund selber anschaut, sich süßlich ins Gaumenzäpfchen schleicht, bis es anschwillt und einem ins Hirn steigt. Bis man im Kopf kein Hirn, nur das Hungerecho hat.

Es gibt keine passenden Wörter fürs Hungerleiden. Ich muss dem Hunger heute noch zeigen, dass ich ihm entkommen bin. Ich esse buchstäblich das Leben selbst, seit ich nicht mehr hungern muss. Ich bin eingesperrt in den Geschmack des Essens, wenn ich esse. Ich esse seit meiner Heimkehr aus dem Lager, seit sechzig Jahren, gegen das Verhungern.

Ich sah das Meldekraut, das man nicht mehr essen konnte, und versuchte, an etwas anderes zu denken. An die letzte müde Wärme des Spätsommers, bevor der Eiswinter kam. Stattdessen dachte ich dann aber an Kartoffeln, die es nicht gab. Und an die Frauen, die auf dem Kolchos wohnten und womöglich schon neue Kartoffeln in der täglichen Krautsuppe bekamen. Sonst beneidete man sie nicht. Sie wohnten in Erdlöchern und mussten jeden Tag viel länger arbeiten, von Lichtanfang bis Lichtende.

Frühjahr im Lager, das hieß Meldekrautkochen für uns Meldegänger über die Schutthalden. Der Name MELDEKRAUT ist ein starkes Stück und besagt überhaupt nichts. MELDE war für uns ein Wort ohne Beiklang, ein Wort, das uns in Ruhe ließ. Es hieß ja nicht MELDE DICH, es war kein Appellkraut, sondern ein Wegrandwort. Auf jeden Fall war es ein Nachabendappellwort — ein Nachappellkraut, keinesfalls ein Appellkraut. Oft wartete man ungeduldig mit dem Meldekrautkochen, weil der Zählappell noch bevorstand und endlos dauerte, weil nichts stimmte.

Es gab fünf RB — RABOTSCHI BATALION in unserem Lager, fünf Arbeitsbataillone. Jedes einzelne hieß ORB — Odelna Rabotschi Batalion und bestand aus 500 bis 800 Internierten. Mein Bataillon hatte die Nummer 1009, meine Arbeitsnummer war 756.

Wir stellten uns auf in Reih und Glied — welch ein Ausdruck für diese fünf Elendsregimenter aus dicken Augen, großen Nasen, hohlen Wangen. Die Bäuche und Beine waren aufgepumpt mit dem dystrophischen Wasser. Ob Frost oder Gluthitze, ganze Abende vergingen im Stillgestanden. Nur die Läuse durften sich rühren an uns. Beim endlosen Durchzählen konnten sie sich vollsaufen und Paradegänge absolvieren über unser elendiges Fleisch, uns stundenlang vom Kopf bis in die Schamhaare kriechen. Meist hatten sich die Läuse schon satt gesoffen und in die Steppnähte der Watteanzüge schlafen gelegt, und wir standen immer noch still. Der Lagerkommandant Schischtwanjonow schrie noch immer. Seinen Vornamen kannten wir nicht. Er hieß nur Towarischtsch Schischtwanjonow. Das war lang genug, um vor Angst zu stottern, wenn man es aussprach. Mir fiel beim Namen Towarischtsch Schischtwanjonow immer das Rauschen der Deportationslokomotive ein. Und die weiße Nische zu Hause in der Kirche, DER HIMMEL SETZT DIE ZEIT IN GANG. Vielleicht mussten wir gegen die weiße Nische stundenlang stillstehen. Die Knochen wurden sperrig wie Eisen. Wenn das Fleisch am Körper verschwunden ist, wird einem das Tragen der Knochen zur Last, es zieht dich in den Boden hinein.

Ich übte beim Appell, mich beim Stillstehen zu vergessen und das Ein- und Ausatmen nicht voneinander zu trennen. Und die Augen hinaufzudrehen, ohne den Kopf zu heben. Und am Himmel eine Wolkenecke suchen, an die man seine Knochen hängen kann. Wenn ich mich vergessen und den himmlischen Haken gefunden hatte, hielt er mich fest.