In ihren Augen zuckte eine dünne Eishaut. Ihre Wangendellen klebten weißhaarig an den Knochen. Es konnte für ihren Hungerengel kein Geheimnis sein, dass bei ihr nichts mehr zu holen ist. Mir war unwohl, als ob ihr Hungerengel sie um so schneller verlassen würde, je mehr sie mir vertraut. Als ob er bei mir einziehen würde.
Nur der Hungerengel könnte Paul Gast verbieten, seiner Frau das Essen zu stehlen. Aber der Hungerengel ist doch selber ein Dieb. Alle Hungerengel kennen sich, dachte ich, wie wir uns kennen. Alle haben unsere Berufe. Der Hungerengel von Paul Gast ist Advokat, wie er. Und der von Heidrun Gast ist nur der Handlanger von seinem. Auch meiner ist nur Handlanger, wer weiß von wem.
Ich sagte: Heidrun, iss die Suppe.
Ich kann nicht, sagte sie.
Ich griff nach der Suppe. Auch die Trudi Pelikan schielte nach ihr. Auch der Albert Gion von vis-à-vis. Ich begann zu löffeln, die Löffel zählte ich nicht. Ich schlürfte nicht einmal, weil das länger dauert. Ich aß ganz für mich, ohne Heidrun Gast und Trudi Pelikan und Albert Gion. Ich vergaß alles um mich, die ganze Kantine. Ich zog mir die Suppe ins Herz. Vor diesem Teller war mein Hungerengel kein Handlanger, sondern ein Advokat.
Den leeren Teller schob ich zur Heidrun Gast, an ihre linke Hand, bis er an ihren kleinen Finger stieß. Sie leckte ihren unbenutzten Löffel ab und wischte ihn an der Jacke trocken, als hätte sie gegessen, nicht ich. Entweder wusste sie nicht mehr, ob sie isst oder zuschaut. Oder wollte sie so tun, als ob sie gegessen hätte. So oder so sah man ihren Hungerengel ausgestreckt in ihrem Schlitzmaul liegen, außen gnädigblass und innen dunkelblau. Es war nicht auszuschließen, dass er sogar waagerecht stehen konnte. Und es war sicher, dass er im Fetzenwasser der Krautsuppe ihre verbliebenen Tage zählte. Es kann aber auch sein, dass er die Heidrun Gast vergaß und die Waage an meinem Gaumenzäpfchen schärfer stellte. Dass er beim Essen rechnete, wie viel an mir in welcher Zeit zu holen ist.
Ich habe einen Plan
Ich werde seine Waage betrügen, wenn der Hungerengel mich wiegt.
Genauso leicht wie mein gespartes Brot werde ich sein. Und genauso schwer zu beißen.
Du wirst schon sehen, sage ich zu mir, es ist ein kurzer Plan, der lange hält.
Der Blechkuss
Nach dem Abendessen ging ich zur Nachtschicht in den Keller. Am Himmel war eine Aufhellung. Vom Russendorf flog eine Vogelschar wie eine graue Halskette aufs Lager zu. Ich weiß nicht, ob die Vögel oben in der Aufhellung quietschten oder in meinem Mund am Gaumensegel. Ich weiß auch nicht, ob sie mit den Schnäbeln quietschten oder die Füße aneinanderrieben oder an den Flügeln alte Knochen ohne Knorpel hatten.
Auf einmal war von der Halskette ein Stückchen abgerissen, es teilte sich in Schnurrbärte. Drei davon flogen dem Soldaten vom hinteren Wachturm unterhalb der Mütze in die Stirn. Sie blieben lange dort. Erst als ich mich drüben am Fabriktor noch einmal umdrehte, flogen sie unterhalb der Mütze aus seinem Hinterkopf heraus. Sein Gewehr wackelte, der Wachsoldat blieb starr. Ich dachte, er ist aus Holz gebaut und das Gewehr aus Fleisch.
Mit dem Wachsoldaten auf dem Turm wollte ich nicht tauschen, auch nicht mit der Vogelkette. Auch der Schlackearbeiter, der jeden Abend dieselben 64 Stufen hinunter in den Keller geht, wollte ich nicht sein. Aber tauschen wollte ich. Ich wollte, glaube ich, das Gewehr sein.
In der Nachtschicht kippte ich wie immer ein Wägelchen nach dem andern, und der Albert Gion ging stoßen. Dann tauschten wir. Die heiße Schlacke nebelte uns ein. Die Glutbrocken rochen nach Tannenharz und mein verschwitzter Hals nach Honigtee. Dem Albert Gion schaukelte das Augenweiß wie zwei geschälte Eier und seine Zähne wie ein Läusekamm. Und sein schwarzes Gesicht war nicht bei ihm im Keller.
In der Pause, auf dem Schweigebrett, beleuchtete das kleine Koksfeuer unsere Schuhe bis zum Knie. Der Albert Gion knöpfte sich die Jacke auf und fragte: Vermisst die Heidrun Gast mehr den Deutschen oder die Kartoffeln. Die hat den Faden doch schon öfter abgebissen, wer weiß, was auf die anderen Fetzen geschrieben war. Der Advokat hat recht, wenn er ihr Essen stiehlt. Alte Ehe macht hungrig, Untreue macht satt. Der Albert Gion tupfte mir aufs Knie. Als Zeichen, dass die Pause um ist, dachte ich. Doch er sagte: Morgen kriege ich die Suppe, was meint dein Minkowski-Draht dazu. Mein Minkowski-Draht schwieg. Wir blieben stumm noch eine Weile sitzen. Meine schwarze Hand sah man nicht auf der Bank. Seine auch nicht.
Am nächsten Tag saß Paul Gast trotz der eiternden Zähne wieder neben seiner Frau in der Kantine. Er konnte wieder essen, und Heidrun Gast konnte wieder schweigen. Mein Minkowski-Draht meinte dazu, dass ich enttäuscht war, wie so oft. Und dass der Albert Gion so gehässig war wie sonst nie. Er wollte dem Advokaten das Essen verderben und suchte Streit. Er warf ihm sein unausstehlich lautes Schnarchen vor. Dann wurde ich gehässig und versicherte dem Albert Gion, dass er lauter schnarcht als der Advokat. Der Albert Gion war außer sich, dass ich ihm den Streit verdorben hatte. Er hob die Hand gegen mich, und sein knochiges Gesicht glich einem Pferdekopf. Während wir noch stritten, tauchte der Advokat seinen Löffel schon längst in den Teller seiner Frau. Ihr Löffel tauchte immer seltener und seiner immer öfter. Er schlürfte, und seine Frau fing an zu husten, damit sie mit dem Mund etwas tut. Und beim Husten hielt sie sich den Mund zu und spreizte wie eine Dame ihren kleinen Finger, der von der Schwefelsäure zerfressen und vom Schmieröl so dreckig war wie alle Finger hier in der Kantine. Saubere Hände hatte nur der Rasierer Oswald Enyeter, aber sie waren so dunkel wie unsere Hände vom Dreck, denn sie waren behaart als wären sie von den Erdhunden geliehen. Auch die Trudi Pelikan hatte saubere Hände, seit sie Krankenschwester war. Sauber schon, aber gelbbraun verfärbt vom Einreiben der Kranken mit Ichtyol.
Während ich mir über den gespreizten Finger der Heidrun Gast und den Zustand unserer Hände Gedanken machte, kam Karli Halmen und wollte mit mir Brot tauschen. Für Brottausch hatte ich den Kopf nicht frei, ich wehrte ab und blieb bei meinem Eigenbrot. Er tauschte dann mit dem Albert Gion. Da tat es mir leid, das Brotstück, von dem der Albert Gion jetzt abbiss, schien um ein Drittel größer als meines.
Rundherum an allen Tischen schepperte das Blech. Jeder Löffel Suppe ist ein Blechkuss, dachte ich. Und der eigene Hunger ist für jeden eine fremde Macht. Wie gut ich das in dem Moment wusste, wie schnell ich es wieder vergaß.
Der Lauf der Dinge
Die nackte Wahrheit ist, dass der Advokat Paul Gast seiner Frau Heidrun Gast aus dem Essgeschirr die Suppe stahl, bis sie nicht mehr aufstand und starb, weil sie nicht anders konnte, so wie er ihre Suppe stahl, weil sein Hunger nicht anders konnte, so wie er ihren Mantel mit dem Bubikragen und den abgewetzten Hasenfellklappen trug und nichts dafür konnte, dass sie gestorben war, so wie sie nichts dafür konnte, dass sie nicht mehr aufstand, so wie dann unsere Sängerin Loni Mich den Mantel trug und nichts dafür konnte, dass durch den Tod der Frau des Advokaten ein Mantel frei geworden war, so wie der Advokat nichts dafür konnte, dass auch er frei geworden war durch den Tod seiner Frau, so wie er nichts dafür konnte, dass er sie durch die Loni Mich ersetzen wollte, so konnte auch die Loni Mich nichts dafür, dass sie einen Mann hinter der Decke wollte oder einen Mantel, oder dass beides voneinander nicht zu trennen war, so wie auch der Winter nichts dafür konnte, dass er eisigkalt war, und der Mantel nichts dafür konnte, dass er gut wärmte, so konnten auch die Tage nichts dafür, dass sie eine Kette von Ursachen und Folgen waren, so wie auch die Ursachen und Folgen nichts dafür konnten, dass sie die nackte Wahrheit waren, obwohl es um einen Mantel ging.