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In der Silvesternacht zum vierten Jahr, in der Frauenbaracke habe auch ich kandierte Rüben gegessen — eine Torte. Statt gebacken war sie gebaut von der Trudi Pelikan. Statt kandierte Früchte — kandierte Rüben, statt Nüsse — Sonnenblumenkerne, statt Mehl — Maisschrot, statt auf Tortentellerchen — auf losen Fayencekacheln aus dem Sterbezimmer der Krankenbaracke. Und dazu gab es für jeden eine Zigarette vom Basar — LUCKY STRIKE. Ich zog zweimal dran und war besoffen. Der Kopf schwebte mir von den Schultern und vermischte sich mit den anderen Gesichtern, die Bettgestelle kreisten. Wir sangen und schunkelten den Viehwaggonblues:

Im Walde blüht der Seidelbast

Im Graben liegt noch Schnee

Und das du mir geschrieben hast

Das Brieflein tut mir weh

Die Planton-Kati saß mit ihrem Stück Torte auf der Fayencekachel am Tischchen unter der Dienstlampe. Sie schaute uns teilnahmslos zu. Doch als das Lied zu Ende war, wackelte sie auf ihrem Stuhl und machte: UUUH, UUUH.

Dieses tiefe UUUH machte sie, den dumpfen Ton der Deportationslokomotive beim letzten Halt in der Schneenacht vor vier Jahren. Ich erstarrte, einige weinten. Auch die Trudi Pelikan fand keinen Halt mehr. Und die Planton-Kati schaute sich das Weinen an und aß ihre Torte. Man sah, dass es ihr schmeckte.

Es gibt Wörter, die machen mit mir, was sie wollen. Ich weiß nicht mehr, ob das russische Wort WOSCH die Wanzen meint oder die Läuse. Ich meine mit Wosch sowohl die Wanzen als auch die Läuse. Das Wort kennt seine Tiere vielleicht gar nicht. Ich schon.

Die Wanzen klettern an den Wänden hoch und lassen sich im Dunkeln vom Plafond auf die Betten fallen. Ich weiß nicht, ob sie sich im Hellen nicht fallen lassen oder ob man sie nur nicht sieht. Auch als Schutz vor den Wanzen brennt die ganze Nacht das Dienstlicht in den Baracken.

Unsere Bettgestelle sind aus Eisen. Rostige Stangen mit rauhen Schweißnähten. In ihnen können sich die Wanzen vermehren, auch in den ungehobelten Brettern unterm Strohsack. Wenn die Wanzen überhandnehmen, müssen wir, meistens am Wochenende, mit den Betten in den Hof. Die Männer aus der Fabrik haben sich Drahtbürsten gemacht. Die Bettgestelle und die Bretter werden unter den Bürsten rotbraun vom Blut der zerquetschten Wanzen. Wir sind bei dieser befohlenen Wanzenvertilgung ehrgeizig dabei. Wir wollen unsere Betten säubern und in den Nächten Ruhe haben. Wir sehen das Blut der Wanzen gern, weil es unseres ist. Je mehr Blut, um so mehr Lust macht das Bürsten. Aus uns wird aller Hass herausgelockt. Wir bürsten die Wanzen tot und werden dabei stolz, als wären es die Russen.

Dann überfällt uns, wie ein Hieb auf den Kopf, die Übermüdung. Ein Stolz, der müde ist, macht traurig. Er hat sich kleingebürstet, bis zum nächsten Mal. Im Wissen der Vergeblichkeit tragen wir die entwanzten Betten wieder in die Baracken zurück. Mit einer lausigen Bescheidenheit im engsten Sinn des Wortes sagen wir: Wenigstens die Nacht kann kommen.

Und 60 Jahre später träume ich: Ich bin zum zweiten, dritten, manchmal sogar zum siebten Mal deportiert. Ich stelle meinen Grammophonkoffer an den Brunnen und irre auf dem Appellplatz herum. Es gibt keine Brigaden hier, keinen Natschalnik. Ich habe keine Arbeit. Ich bin vergessen von der Welt und von der neuen Lagerleitung. Ich berufe mich auf meine Erfahrung als Lagerveteran. Ich habe doch schließlich meine Herzschaufel, meine Tag- und Nachtschicht war immer ein Kunstwerk, erkläre ich. Ich bin doch kein Hergelaufener, ich kann doch was. Ich kenne mich aus mit Keller und Schlacke. Ich habe doch von meiner ersten Deportation ein käfergroßes Stück Schlacke blauschwarz im Schienbein eingewachsen. Ich zeige die Stelle am Schienbein wie einen Heldenorden. Ich weiß nicht, wo ich schlafen soll, hier ist alles neu. Wo sind die Baracken, frag ich. Wo ist Bea Zakel, wo ist Tur Prikulitsch. Die lahmende Fenja hat in jedem Traum eine andere Häkeljacke an und darüber immer dieselbe Schärpe aus dem weißen Brotleintuch umhängen. Sie sagt, es gibt keine Lagerleitung. Ich fühle mich vernachlässigt. Keiner will mich hier haben, und ich darf auf keinen Fall weg.

In welches Lager ist der Traum geraten. Interessiert es den Traum überhaupt, dass es die Herzschaufel und den Schlackenkeller wirklich gab. Dass mir die fünf gefangenen Jahre reichen. Will der Traum mich ewig deportieren und mich dann im siebten Lager nicht einmal arbeiten lassen. Das kränkt nun wirklich. Ich kann dem Traum nichts entgegenhalten, egal zum wievielten Mal er mich deportiert und in welchem Lager ich gerade bin.

Falls ich in diesem Leben noch einmal deportiert werden sollte, wüsste ich: Es gibt erste Dinge, die das Zweite schon wollen, auch wenn man das gar nicht will. Was treibt mich in diese Verbundenheit. Warum will ich nachts das Recht auf mein Elend haben. Warum kann ich nicht frei sein. Wieso zwinge ich das Lager, mir zu gehören. Heimweh. Als ob ich es bräuchte.

Ein heller Moment

An einem Nachmittag saß die Planton-Kati, wer weiß seit wann, am Holztischchen in der Baracke. Wahrscheinlich wegen der Kuckucksuhr. Als ich hereinkam, fragte sie: Wohnst du hier.

Ich sagte: Ja.

Ich auch, sagte sie, aber hinter der Kirche. Wir sind im Frühjahr in das neue Haus gezogen. Dann ist mein kleiner Bruder gestorben. Er war alt.

Ich sagte: Aber er war doch jünger als du.

Er war krank, dann ist man alt, sagte sie. Dann habe ich seine Antilopenschuhe angezogen und bin zu dem alten Haus gegangen. Dort war ein Mann im Hof. Dann hat der Mann mich gefragt, wie kommst du hierher. Ich habe ihm die Antilopenschuhe gezeigt. Dann hat er gesagt, komm nächstes Mal mit dem Kopf.

Was hast du dann gemacht, fragte ich.

Dann bin ich in die Kirche gegangen, sagte sie.

Ich fragte: Wie hieß dein kleiner Bruder.

Sie sagte: Latzi, so wie du.

Ich heiße doch Leo, sagte ich.

Vielleicht bei euch zu Hause, aber hier heißt du Latzi, sagte sie.

So ein heller Moment, dachte ich, in dem Namen ist eine Laus. Latzi kommt von Ladislaus.

Die Planton-Kati stand auf, machte sich bucklig und schaute vor der Tür noch einmal zur Kuckucksuhr. Aber ihr rechtes Auge schielte zu mir, wie wenn man alte Seide umdreht. Sie hob den Zeigefinger und sagte:

Weißt du was, du sollst mir in der Kirche nicht mehr winken.

Leichtsinn wie Heu

Im Sommer durften wir draußen auf dem Appellplatz tanzen. Die Schwalben flogen ihrem Hunger nach, kurz vor der Nacht, die Bäume waren schon dunkel gezackt, die Wolken rot unterlaufen. Später hing über der Kantine ein fingerschmaler Mond. Das Getrommel vom Kowatsch Anton zog durch den Wind, die Tanzpaare schwankten auf dem Appellplatz wie Büsche. In Wellen bimmelte das Glöckchen der Koksbatterien. Gleich danach kam der Glutschein vom Fabrikgelände drüben und leuchtete im Himmel bis hierher. Und man konnte, bis das Leuchten verging, den zitternden Kropf der singenden Loni sehen und die schweren Augen des Akkordeonspielers Konrad Fonn, immer zur Seite gedreht, wo nichts und niemand war.

Es hatte etwas Animalisches, wie Konrad Fonn die Rippen des Akkordeons aufzog und zudrückte. Seine Augendeckel wären fürs Laszive schwer genug gewesen, aber die Leere in seinen Augen war zu kalt. Ihm ging die Musik nicht ins Gemüt. Er scheuchte die Lieder von sich weg, in uns krochen sie hinein. Sein Akkordeon spielte dumpf und schlurfend. Seit der Zither-Lommer in Odessa, wie es hieß, in Richtung nach Hause eingeschifft worden war, fehlten dem Orchester die warmen hellen Töne. Vielleicht war das Akkordeon so verstimmt wie der Musikant und zweifelte, ob das getanzt ist, wenn Deportierte paarweise auf dem Appellplatz schwanken wie Gebüsch.

Die Planton-Kati saß auf der Bank und baumelte mit den Füßen im Takt. Wenn ein Mann mit ihr tanzen wollte, lief sie weg ins Sackdunkle. Hie und da tanzte sie mit einer der Frauen, streckte dabei den Hals und schaute in den Himmel hinauf. Beim Schrittwechsel blieb sie im Takt, früher musste sie oft getanzt haben. Wenn sie auf der Bank saß und zuschaute, wie die Paare sich zu nahe kommen, warf sie mit Kieselsteinen. Es war kein Spiel, ihr Gesicht blieb ernst.