Der Albert Gion sagte, die meisten vergessen den Appellplatz und sagen sogar, wir tanzen auf dem Rondell. Er tanze nie mehr mit der Zirri Wandschneider, die sei eine Klette und wolle sich unbedingt an ihn abgeben. Aber es sei doch die Musik, die hier im Dunkeln verführt, nicht er.
In der Winterpaloma blieben die Gefühle plissiert wie die Rippen des Akkordeons, eingesperrt in der Kantine. Der Sommertanz wühlte über der Schwermut einen Leichtsinn auf wie Heu. Die Barackenfenster schimmerten schwach, man spürte einander mehr als man sich sah. Die Trudi Pelikan meinte, auf dem Rondell tröpfelt das Heimweh aus dem Kopf in den Bauch. Das Muster der Paare sei alle Stunde anders, das seien Heimwehpaare.
Ich glaube, die Mischungen aus Gunst und Tücke, die bei den Paarungen herauskamen, waren wahrscheinlich so verschieden und vielleicht so miserabel wie die Kohlemischungen. Man konnte aber nur mischen, was man hatte. Man konnte nicht, man musste. So wie ich mich aus allen Mischungen heraushalten und aufpassen musste, dass keiner ahnt warum.
Der Akkordeonspieler ahnte es wahrscheinlich, er hatte etwas Abweisendes. Das kränkte mich, auch wenn ich ihn abstoßend fand. Ich musste ihm jedesmal ins Gesicht schauen, so lange und so oft wie der Glutschein von der Fabrik über den Himmel fuhr. Alle Viertelstunde sah ich über dem Akkordeon seinen Hals mit dem Hundekopf und den furchterregend weggedrehten weißen Augen aus Stein. Dann war der Himmel wieder schwarze Nacht. Und ich wartete eine Viertelstunde, bis der Hundekopf im Licht wieder hässlich wurde. Es war jedesmal dasselbe bei der Sommerpaloma auf dem Appellplatz. Nur im späten September, bei einem der letzten Nachttänze draußen, war es anders.
Ich saß wie so oft mit den Füßen auf der Holzbank und zog beide Knie unters Kinn. Der Advokat Paul Gast machte eine Tanzpause und setzte sich nah an meine Fußspitzen und sagte nichts. Vielleicht dachte er doch noch hie und da an seine tote Frau, an die Heidrun Gast. Denn in dem Moment, als er den Rücken anlehnte, fiel überm Russendorf ein Stern. Er sagte:
Leo, du musst dir schnell etwas wünschen.
Das Russendorf schluckte den Stern, all die anderen glitzerten wie grobes Salz.
Mir ist nichts eingefallen, sagte er, und dir.
Ich sagte: Dass wir leben.
Es war gelogen mit einem Leichtsinn wie Heu. Ich hatte mir gewünscht, dass mein Ersatzbruder nicht mehr lebt. Ich wollte meiner Mutter ein Leid antun, ihn kannte ich ja nicht.
Vom Lagerglück
Glück ist etwas Plötzliches.
Ich kenne das Mundglück und das Kopfglück.
Das Mundglück kommt beim Essen und ist kürzer als der Mund, sogar als das Wort Mund. Wenn man es ausspricht, hat es keine Zeit, in den Kopf zu steigen. Das Mundglück will gar nicht, dass man darüber spricht. Wenn ich vom Mundglück rede, müsste ich vor jedem Satz PLÖTZLICH sagen. Und nach jedem Satz: DU SAGST ES NIEMANDEM, WEIL ALLE HUNGRIG SIND.
Ich sage es nur einmaclass="underline" Plötzlich ziehst du den Ast herunter, pflückst Akazienblüten und isst. Du sagst es niemandem, weil alle hungrig sind. Du pflückst Sauerampfer am Wegrand und isst. Du pflückst wilden Thymian zwischen den Rohren und isst. Du pflückst Kamillen neben der Kellertür und isst. Du pflückst wilden Knoblauch am Zaun und isst. Du ziehst den Ast herunter, pflückst schwarze Maulbeeren und isst. Du pflückst wilden Hafer im Brachland und isst. Du findest keine einzige Kartoffelschale hinter der Kantine, aber einen Krautstrunk, und isst.
Im Winter pflückst du gar nichts. Du gehst aus der Schicht deinen Heimweg in die Baracke und weißt nicht, an welcher Stelle der Schnee am besten schmeckt. Sollst du gleich von der Kellertreppe eine Handvoll nehmen oder erst am verschneiten Kohlehaufen oder erst am Lagertor. Ohne dich zu entscheiden, nimmst du dir eine Handvoll von der weißen Mütze auf dem Zaunpfosten und machst dir den Puls und den Mund und den Hals bis zum Herzen hinunter frisch. Plötzlich spürst du die Müdigkeit nicht mehr. Du sagst es niemandem, weil alle müde sind.
Wenn kein Absturz kommt, ist ein Tag wie der andere. Du wünschst dir, dass ein Tag wie der andere ist. Der fünfte kommt nach dem neunten, sagt der Rasierer Oswald Enyeter — nach seinem Gesetz ist Glückhaben ein bisschen Balamuk. Ich muss Glück haben, weil meine Großmutter gesagt hat: Ich weiß, du kommst wieder. Auch das sage ich niemandem, weil alle wiederkommen wollen. Fürs Glückhaben braucht man ein Ziel. Ich muss ein Ziel suchen, auch wenn es nur der Schnee auf dem Zaunpfosten ist.
Besser als vom Mundglück kann man vom Kopfglück reden.
Das Mundglück will allein sein, es ist stumm und innen angewachsen. Aber das Kopfglück ist gesellig und verlangt nach anderen Personen. Es ist ein umherirrendes Glück, auch nachhinkend. Es dauert länger, als du ihm gewachsen bist. Das Kopfglück ist zerstückelt und schwer zu sortieren, mischt sich wie es will und wandelt sich schnell vom
hellen zum
dunklen
verwischten
blinden
missgünstigen
versteckten
flatternden
zögerlichen
ungestümen
zudringlichen
wackligen
abgestürzten
fallengelassenen
gestapelten
eingefädelten
betrogenen
fadenscheinigen
zerkrümelten
verworrenen
lauernden
stachligen
mulmigen
wiedergekehrten
frechen
gestohlenen
weggeworfenen
übriggebliebenen
um ein Haar danebengegangenen Glück.
Das Kopfglück kann nassäugig, halsverdreht oder fingerzittrig sein. Aber jedes poltert in der Stirn wie ein Frosch in einer Blechdose.
Das allerletzte Glückhaben ist das Eintropfenzuvielglück. Es kommt beim Sterben. Ich weiß noch, als die Irma Pfeifer in der Mörtelgrube gestorben war, machte die Trudi Pelikan mit dem Mund einen Schnalzer wie eine große Null und sagte in einem Wort:
Eintropfenzuvielglück.
Ich gab ihr recht, weil man den Toten beim Abräumen die Erleichterung ansah, dass im Kopf das starre Nest, im Atem die schwindlige Schaukel, in der Brust die taktversessene Pumpe, im Bauch der leere Wartesaal endlich Ruhe geben. Das pure Kopfglück gab es nie, weil in aller Munde der Hunger war.
Für mich ist das Essen auch 60 Jahre nach dem Lager eine große Erregung. Ich esse mit allen Poren. Wenn ich mit anderen Personen esse, werde ich unangenehm. Ich esse rechthaberisch. Die anderen kennen das Mundglück nicht, sie essen gesellig und höflich. Mir aber geht gerade beim Essen das Eintropfenzuvielglück durch den Kopf, dass es zu jedem, so wie wir hier sitzen, irgendwann kommt und dass man im Kopf das Nest, im Atem die Schaukel, in der Brust die Pumpe, im Bauch den Wartesaal hergeben muss. Ich esse so gerne, dass ich nicht sterben will, weil ich dann nicht mehr essen kann. Ich weiß seit 60 Jahren, dass meine Heimkehr das Lagerglück nicht bändigen konnte. Es beißt mit seinem Hunger heute noch von jedem anderen Gefühl die Mitte ab. Mittendrin ist bei mir leer.
Seit meiner Heimkehr hat jedes Gefühl an jedem Tag seinen eigenen Hunger und stellt Ansprüche auf Erwiderung, die ich nicht bringe. An mich darf sich niemand mehr klammern. Ich bin vom Hunger belehrt und aus Demut unerreichbar, nicht aus Stolz.
Man lebt. Man lebt nur einmal
In der Hautundknochenzeit hatte ich nichts mehr im Hirn außer dem ewig sirrenden Leierkasten, der Tag und Nacht wiederholte: Kälte schneidet, Hunger betrügt, Müdigkeit lastet, Heimweh zehrt, Wanzen und Läuse beißen. Ich wollte einen Tausch aushandeln mit den Dingen, die ohne zu leben untot sind. Ich wollte einen Rettungstausch vereinbaren zwischen meinem Körper und der Horizontlinie in der Luft oben und den Staubstraßen auf der Erde unten. Ich wollte mir ihre Ausdauer leihen und ohne meinen Körper existieren, und wenn das Gröbste vorbei ist, wieder in meinen Körper schlüpfen und im Watteanzug erscheinen. Es hatte nichts zu tun mit sterben, es war das Gegenteil.