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Hiermit löse ich das Lager auf. Verschwindet.

Und jeder wird auf eigene Faust immer weiter nach Osten losziehen, in die verkehrte Richtung, weil nach Westen alles zu ist. Über den Ural, quer durch ganz Sibirien, Alaska, Amerika und dann über Gibraltar und das Mittelmeer. Nach fünfundzwanzig Jahren werden wir aus dem Osten über den Westen nach Hause kommen, falls es dann noch unser Zuhause ist, falls es nicht schon zu Russland gehört.

Oder die anderen Varianten: Dass wir überhaupt nicht von hier wegkommen, weil man uns so lange hierbehält, bis das Lager ein Dorf ohne Wachtürme ist und wir hier zwar noch immer keine Russen oder Ukrainer sind, aber Bewohner durch Gewöhnung. Oder dass wir so lange hierbleiben müssen, bis wir nicht mehr weg wollen, weil wir überzeugt sind, dass niemand mehr zu Hause auf uns wartet, weil dort längst andere wohnen, weil alle vertrieben sind, wer weiß wohin, und selber kein Zuhause haben. Eine andere Variante sagt, dass wir zuletzt hierbleiben wollen, weil wir nichts mehr anfangen können mit dem Zuhause und das Zuhause nichts mehr mit uns.

Wenn man von der Welt zu Hause ewig nichts hört, fragt man sich, ob man überhaupt nach Hause wollen und was man sich dort wünschen soll. Im Lager wurde einem das Wünschen abgenommen. Man musste und wollte auch nichts entscheiden. Man wollte zwar nach Hause, beließ es aber bei der Erinnerung nach hinten, man traute sich nicht in die Sehnsucht nach vorn. Man glaubte, dass die Erinnerung schon Sehnsucht ist. Woher soll der Unterschied kommen, wenn sich im Kopf immer dasselbe dreht und die Welt einem so abhandengekommen ist, dass sie einem gar nicht fehlt.

Was wird zu Hause aus mir werden. Ich dachte mir, zwischen den Bergkämmen im Tal werde ich herumlaufen als Heimgekehrter, mir vorausgehen TSCH-TSCH-TSCH wie die Eisenbahn. Ich werde mir selbst in die Falle gehen, in die schrecklichste Vertrautheit werd ich fallen. Das ist meine Familie, werde ich sagen, und meinen werde ich damit die Lagerleute. Meine Mutter wird sagen, dass ich Bibliothekar werden soll, da ist man nie draußen in der Kälte. Und lesen wolltest du schon immer, wird sie sagen. Mein Großvater wird sagen, ich soll es mir überlegen und Handelsreisender werden. Denn reisen wolltest du schon immer, wird er sagen. Meine Mutter wird das vielleicht sagen, und mein Großvater wird das vielleicht sagen, aber wir waren hier in einem neuen vierten Frieden und ich wusste trotz des neuen Ersatzbruders gar nicht, ob sie noch leben. Hier im Lager waren Berufe wie Handelsreisender gut für das Kopfglück, man hatte etwas zu reden.

Einmal auf dem Schweigebrett im Keller habe ich mit dem Albert Gion darüber geredet und ihn sogar aus dem Schweigen gelockt. Vielleicht werde ich später einmal Handelsreisender, habe ich gesagt, mit allerhand Plunder im Koffer, mit Seidentüchern und Bleistiften, farbigen Kreiden, Salben und Fleckenwasser. Mein Großvater hat meiner Großmutter einmal eine Hawaii-Muschel mitgebracht, so groß wie ein Grammophontrichter und innen drin bläulicher Perlmutt. Vielleicht werde ich auch Baumeister, Blaupausen-Baumeister, habe ich auf dem Schweigebrett im Keller gesagt, Ozalidblaupausen-Baumeister. Dann habe ich mein eigenes Büro. Ich werde Häuser bauen für Leute mit Geld, eines wird ganz rund sein wie der Eisenkorb hier. Den Plan mache ich mir zuerst auf Butterbrotpapier. Im Zentrum eine Spindel vom Keller bis hinauf in die Kuppel. Alle Zimmer sollen Viertel- Sechstel- und Achtelkreise sein wie Tortenstücke. Das Butterbrotpapier wird in den Rahmen übers Ozalidpapier gelegt und der Rahmen dann fünf bis zehn Minuten zur Belichtung in die Sonne. Dann rollt man das Ozalidpapier in ein Rohr mit Salmiakdämpfen, nach kurzer Zeit kriecht der Plan schön heraus. Die Ozalidpause ist fertig, rosa, lila, zimtbraun.

Der Albert Gion hat sich das angehört und gesagt: Ozalidpause, hast du nicht Dämpfe genug, mir scheint, du bist übermüdet. Warum sind wir hier im Keller, wir haben keine Berufe. Die Berufe hier sind Friseur, Schuster und Schneider. Gute Berufe sind das, im Lager jedenfalls die besten. Aber man ist es von zu Hause, oder man wird es nie. Es sind Schicksalsberufe. Wenn man gewusst hätte, dass man eines Tages ins Lager kommt, wär man doch Friseur, Schuster oder Schneider geworden. Aber auf keinen Fall Handelsreisender oder Baumeister oder Blaumeister.

Der Albert Gion hatte recht. Ist Mörteltragen ein Beruf. Wenn man all die Jahre Mörtel trägt oder Schlackoblockziegel oder Kohle schaufelt oder Kartoffeln mit den Händen aus der Erde kratzt oder Keller putzt, weiß man, wie es geht, aber Beruf hat man keinen. Schwerstarbeit, aber keinen Beruf. Von uns wurde nur Arbeit verlangt, nie ein Beruf. Wir blieben immer Handlanger, und Handlanger ist kein Beruf.

Wir hatten keinen wilden Hunger mehr, und das Meldekraut wuchs immer noch silbergrün, wurde bald holzig und flackernd rot. Nur weil wir den Hunger kannten, pflückten wir es nicht und kauften uns fettiges Essen auf dem Basar und aßen besinnungslos viel. Nun wurde das alte Heimweh schwammig gemästet mit neuem, eiligem Fleisch. Und ich musste mir mit dem neuen Fleisch immer noch das Alte einreden: Einmal werde auch ich aufs elegante Pflaster kommen. Auch ich.

Gründlich wie die Stille

Als ich die Hautundknochenzeit und den Rettungstausch hinter mir — als ich Ballettki, Bargeld, zu essen, neues Fleisch auf der Haut und neue Kleider im neuen Koffer vor mir hatte, kam die unzumutbare Entlassung. Für alle fünf Jahre Lager kann ich heute fünf Dinge sagen:

1 Schaufelhub = 1 Gramm Brot.

Der Nullpunkt ist das Unsagbare.

Der Rettungstausch ist ein Gast von drüben.

Das Lager-Wir ist ein Singular.

Der Umfang geht ins Tiefe.

Aber für alle fünf Dinge gilt ein- und dasselbe:

Sie sind gründlich wie die Stille zwischen ihnen und nicht vor Zeugen.

Der Nichtrührer

Anfang Januar 1950 kam ich aus dem Lager nach Hause. Jetzt saß ich wieder in einem Wohnzimmer, in einem tiefen Viereck unter der weißen Stuckdecke wie unterm Schnee. Der Vater malte die Karpaten, alle paar Tage ein neues Aquarell mit grauzähnigen Bergen und schneeverwischten Tannen, fast auf jedem Bild gleich sortiert. Am Fuß des Gebirges Reihentannen, am Hang Gruppentannen, auf dem Kamm Tannenpaare und Einzeltannen, dazwischen hie und da eine Birke wie weißes Geweih. Am schwersten zu malen sind offenbar Wolken, sie glichen auf allen Bildern grauen Diwankissen. Auf jedem Aquarell waren die Karpaten schläfrig.

Der Großvater war gestorben. Die Großmutter saß in seinem Plüschsessel und machte Kreuzworträtsel. Hie und da fragte sie ein Wort: Kanapee im Orient, Teil des Schuhs mit Z, Pferderasse, Dach aus Segeltuch.

Die Mutter strickte ein Paar Schafwollsocken nach dem anderen für ihr Ersatzkind Robert. Das erste Paar waren grüne, das zweite weiße. Dann braune, rotweiß gesprenkelte, blaue, graue. Mit dem weißen Paar hatte die Verwirrung angefangen — die Mutter strickte Läuseklumpen. Seither sah ich in allen Socken unsere gestrickten Gärten zwischen den Baracken, Pulloverzipfel im Morgengrauen. Ich lag auf dem Diwan, das Wollknäuel lag in der Blechschüssel neben dem Stuhl der Mutter, es war lebendiger als ich. Der Faden kletterte, ließ sich hängen und fallen. Zwei faustdicke Knäuel machten eine fertige Socke, die ganze Länge der Wolle war nicht zu berechnen. In allen Socken addiert, entsprach sie vielleicht der Entfernung vom Diwan zum Bahnhof. Ich mied die Bahnhofsgegend. Ich hatte jetzt warme Füße, nur die Frostflecken juckten am Rist, wo die Fußlappen immer zuerst an die Haut gefroren waren. Die Wintertage wurden schon gegen vier Uhr grau. Die Großmutter knipste das Licht an. Der Lampenschirm war ein hellblauer Trichter mit dunkelblauem Quastenrand. Die Decke bekam wenig Licht, der Stuck blieb grau und begann zu schmelzen. Am nächsten Morgen war er wieder weiß. Ich bildete mir ein, dass er nachts, wenn wir in anderen Zimmern schlafen, frisch gefriert wie die Eisstickereien im Brachland hinterm Zeppelin. Neben dem Schrank tickte die Uhr. Das Pendel flog und schaufelte unsere Zeit zwischen die Möbel vom Schrank zum Fenster, vom Tisch zum Diwan, vom Ofen zum Plüschsessel, vom Tag in den Abend. An der Wand war das Ticken meine Atemschaukel, in meiner Brust war es meine Herzschaufel. Sie fehlte mir sehr.