Ende Januar holte mich mein Onkel Edwin frühmorgens ab, um mich seinem Meister in der Kistenfabrik vorzustellen. Draußen auf der Schulgasse, ein Haus weiter im Fenster vom Herrn Carp, stand ein Gesicht. Es war unterm Hals vom Muster der Eisblumen abgeschnitten. Um die Stirn lag ein Zopf aus Eishaaren und neben der Nasenwurzel ein grünlich abgleitendes Auge — ich sah Bea Zakel im weißgeblümten Morgenmantel mit einem schweren grauen Zopf. Im Fenster saß wie jeden Tag die Katze vom Herrn Carp, aber mir tat es leid um Bea, dass sie so schnell gealtert ist. Ich wusste, dass die Katze nur eine Katze sein kann, die Telegrafenstange kein Wachposten, das weiße Brennen auf dem Schnee nicht der Lagerkorso, sondern die Schulgasse. Dass alles hier zu Hause nicht anders sein kann, weil es bei sich geblieben ist. Alles, außer mir. Zwischen den heimatsatten Leuten war ich vor Freiheit schwindlig. Mein Gemüt war sprunghaft, auf Absturz und hündische Angst dressiert, mein Hirn auf Unterwerfung angewiesen. Ich sah Bea Zakel im Fenster auf mich warten, bestimmt sah auch sie mich vorübergehen. Ich hätte grüßen sollen, wenigstens mit dem Kopf nicken oder winken mit der Hand. Es war mir zu spät eingefallen, wir waren jetzt zwei Häuser weiter.
Als wir am Ende der Schulgasse um die Ecke bogen, hängte mein Onkel mich ein. Sicher spürte er, dass ich dicht neben ihm ganz woanders bin. Vermutlich hängte er gar nicht mich ein, sondern seinen alten Mantel, den ich trug. Seine Lunge pfiff. Mir schien, dass er, was er nach dem langen Schweigen sagte, gar nicht sagen wollte. Dass seine Lungenflügel ihn dazu gezwungen hatten, dass er deshalb zweistimmig sagte: Hoffentlich nehmen sie dich in der Fabrik. Mir scheint, bei euch ist die Mieselsucht im Haus. Er meinte den Nichtrührer.
An der Stelle, wo die Pelzkappe an sein linkes Ohr stieß, liefen die Hautfalten seiner Ohrmuschel glatt auseinander wie an meinen Ohren. Ich musste auch sein rechtes Ohr anschauen. Ich machte mich los und wechselte auf seine rechte Seite. Noch mehr als das linke Ohr war auch das rechte mein Ohr. Der glatte Ohrenrand fing noch weiter unten an, er war länger und breiter, wie gebügelt.
In der Kistenfabrik nahmen sie mich. Ich kam täglich aus dem Nichtrührer heraus und nach Feierabend wieder hinein. Jedesmal, wenn ich nach Hause kam, fragte die Großmutter:
Bist du gekommen.
Und ich sagte: Ich bin gekommen.
Wenn ich das Haus verließ, fragte sie jedesmaclass="underline"
Gehst du weg.
Und ich sagte: Ich gehe weg.
Beim Fragen kam sie mir immer einen Schritt entgegen und griff sich ungläubig an die Stirn. Ihre Hände waren durchsichtig, nur Haut mit Adern und Knochen, zwei Seidenfächer. Ich wollte der Großmutter um den Hals fallen, wenn sie das fragte. Der Nichtrührer hinderte mich.
Der kleine Robert hörte die täglichen Fragen. Wenn es ihm einfiel, machte er die Großmutter nach, kam mir einen Schritt entgegen, griff sich an die Stirn und fragte in einem Satz:
Bist du gekommen, gehst du weg.
Jedesmal, wenn er sich an die Stirn griff, sah ich die Speckfalten an seinen Handwurzeln. Jedesmal wollte ich dem Ersatzbruder den Hals zudrücken, wenn er das fragte. Der Nichtrührer hinderte mich.
An einem Tag, als ich aus der Arbeit kam, sah ein Zipfel weißer Spitzenstoff unterm Deckel der Nähmaschine heraus. An einem anderen Tag hing an der Klinke der Küchentür ein Regenschirm, und auf dem Tisch lag ein zersprungener Teller, zwei gleiche Scherben wie in der Mitte durchgeschnitten. Und die Mutter hatte sich den Daumen mit einem Taschentuch verbunden. An einem Tag lagen Vaters Hosenträger auf dem Radio und Großmutters Brille in meinem Schuh. An einem anderen Tag war Roberts Stoffhund Mopi mit den Schnürsenkeln meiner Schuhe an den Griff der Teekanne gebunden. Und in meiner Mütze lag eine Brotkruste. Vielleicht streiften sie den Nichtrührer ab, wenn ich von zu Hause weg war. Vielleicht lebten sie auf. Hier im Haus ging es zu wie mit dem Hungerengel im Lager. Es klärte sich nie, ob wir alle miteinander einen Nichtrührer haben oder jeder seinen eigenen.
Wahrscheinlich lachten sie, wenn ich nicht da war. Wahrscheinlich bedauerten oder beschimpften sie mich. Wahrscheinlich küssten sie den kleinen Robert. Wahrscheinlich sagten sie, dass sie mit mir Geduld brauchen, weil sie mich lieben, oder dachten es nur still und gingen ihren Händen nach. Wahrscheinlich. Vielleicht hätte ich lachen sollen, wenn ich nach Hause kam. Vielleicht hätte ich sie bedauern oder beschimpfen sollen. Vielleicht hätte ich den kleinen Robert küssen sollen. Vielleicht hätte ich sagen sollen, dass ich mit ihnen Geduld brauche, weil ich sie liebe. Nur, wie sollte ich das sagen, wenn ich es mir nicht einmal im stillen denken konnte.
Im ersten Monat nach der Heimkehr ließ ich die ganze Nacht im Zimmer das Licht brennen, weil ich mich ohne Dienstlicht fürchtete. Ich glaube, in der Nacht träumt man nur, wenn man vom Tag müde ist. Erst als ich in der Kistenfabrik arbeiten durfte, kam zum ersten Mal wieder ein Traum in meinen Schlaf.
Großmutter und ich sitzen zusammen auf dem Plüschsessel, Robert auf einem Stuhl daneben. Ich bin klein wie Robert und Robert groß wie ich. Robert steigt auf seinen Stuhl, nimmt über der Uhr den Stuck von der Decke. Er legt ihn mir und der Großmutter um den Hals wie einen weißen Schal. Der Vater kniet mit seiner Leica-Kamera vor uns auf dem Teppich, und die Mutter sagt: Lächelt euch mal an, es wird das letzte Bild, bevor sie stirbt. Meine Beine reichen nur knapp über den Stuhlrand. Aus dieser Position kann der Vater meine Schuhe nur von unten fotografieren, mit den Schuhsohlen nach vorn in Richtung Tür. Bei diesen kurzen Beinen bleibt dem Vater gar nichts anders übrig, auch wenn er das nicht will. Ich streife mir den Stuck von der Schulter. Die Großmutter umarmt mich und drückt mir den Stuck wieder an den Hals. Sie hält ihn fest mit ihrer durchsichtigen Hand. Die Mutter dirigiert den Vater mit einer Stricknadel, bis er umgekehrt zu zählen anfängt — drei, zwei, bei der Zahl eins knipst er. Danach steckt die Mutter sich die Stricknadel schräg durch den Dutt und nimmt uns den Stuck von den Schultern. Und Robert steigt damit auf seinen Stuhl und tut ihn oben an die Wand zurück.
Hast du ein Kind in Wien
Ich war schon seit Monaten mit den Füßen daheim, wo niemand wusste, was ich gesehen hatte. Und es fragte auch keiner. Erzählen kann man nur, wenn man wieder den abgibt, von dem man erzählt. Ich war froh, dass keiner etwas fragte, und insgeheim kränkte es mich. Der Großvater hätte mich bestimmt etwas gefragt. Er war seit zwei Jahren tot. Im Sommer nach meinem dritten Frieden war er an Nierenversagen gestorben und blieb bei den Toten, anders als ich.
An einem Abend kam der Nachbar, der Herr Carp, zu uns herüber und brachte die Wasserwaage zurück, die er geliehen hatte. Als er mich sah, musste er stottern. Ich bedankte mich für seine gelben Ledergamaschen und log, dass sie mich im Lager gewärmt hätten. Dass sie mir Glück gebracht hätten, sagte ich dann auch noch dazu, dass ich ihretwegen auf dem Basar einmal zehn Rubel gefunden hätte. Vor Aufregung glitten die Pupillen vom Herrn Carp wie Kirschkerne durch seine Augen. Er legte die Arme zusammen, streichelte sich beide Arme mit den Daumen, wippte und sagte: Dein Großvater hat immer auf dich gewartet. An seinem Todestag sind die Berge in die Wolken gegangen, es sind viele fremde Wolken wie fremde Koffer in die Stadt gekommen von überallher. Die Wolken haben gewusst, dass dein Großvater ein Weitgereister war. Eine Wolke war bestimmt von dir, auch wenn du es nicht weißt. Um fünf Uhr war das Begräbnis vorbei und gleich danach hat es eine halbe Stunde still geregnet. Ich weiß, es war ein Mittwoch, ich musste noch in die Stadt, Leim kaufen. Auf dem Heimweg habe ich vor eurem Hauseingang eine nackige Ratte gesehen. Sie war faltig, hat gezittert und sich an euer Holztor gekauert. Ich habe mich gewundert, dass sie keinen Schwanz hat oder darauf sitzt. Als ich vor ihr stand, sah ich eine warzige Kröte. Sie hat mich angeschaut und an ihren Backen zwei weiße Blasen aufgepumpt und grausig damit jongliert. Im ersten Moment habe ich sie mit dem Schirm wegschieben wollen, mich aber nicht getraut. Besser nicht, habe ich mir gedacht, es ist eine Erdkröte, sie winkt mit ihren weißen Blasen, das hat mit dem Tod von Leo zu tun. Man hat ja gedacht, dass du tot bist. Dein Großvater hat sehr auf dich gewartet, die erste Zeit. In der letzten Zeit dann weniger. Jeder hat ja geglaubt, dass du tot bist. Du hast ja nicht geschrieben, darum lebst du jetzt.