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Das hat nichts miteinander zu tun, sagte ich.

Mein Atem bebte, weil der Herr Carp auf seinem ausgefransten Schnurrbart kaute und mich merken ließ, dass er es nicht glaubt. Die Mutter schielte durchs Verandafenster in den Hof, wo es nichts zu sehen gab als das bisschen Himmel und die Teerpappe auf dem Schuppen. Herr Carp, passen Sie auf, was sie reden, sagte die Großmutter. Das haben sie mir damals anders erzählt, damals hatten die weißen Blasen mit meinem toten Mann zu tun. Sie sind ein Gruß von meinem toten Mann, haben Sie damals gesagt. Der Herr Carp murmelte mehr zu sich selbst: Wie ich es jetzt sage, so ist es wahr. Ich konnte Ihnen, als Ihr Mann gestorben war, nicht auch noch mit dem toten Leo kommen. Der kleine Robert zog die Wasserwaage auf dem Boden und machte TSCH TSCH TSCH. Er setzte den Mopi aufs Dach seines Zugs, zog die Mutter am Kleid und sagte: Komm in den Zug, wir fahren auf die Wench. In der Wasserwaage zuckelte das abgleitende grüne Auge. Auf dem Zugdach oben saß der Mopi, im Waageninneren saß aber Bea Zakel und schaute durchs Fenster der Wasserwaage auf die Zehen vom Herrn Carp. Der Herr Carp hatte nichts Neues gesagt, nur das Ungehörige ausgesprochen. Ich wusste, dass der Schrecken größer als die Überraschung war, es war eine freudlose Erleichterung im Haus, als ich wiederkam. Ich hatte ihre Trauerzeit betrogen, weil ich lebte.

Seit ich wieder daheim war, hatte alles Augen. Alles sah, dass mein herrenloses Heimweh nicht wegging. Vor dem größten Fenster stand die Nähmaschine mit dem verfluchten Schiffchen und dem weißen Zwirn unter ihrem Holzdeckel. Das Grammophon war wieder in mein abgenutztes Köfferchen eingebaut und stand auf dem Ecktisch wie immer. Dieselben grünen und blauen Gardinen ließen sich hängen, dieselben Blumenmuster schlängelten sich in den Teppichen, die verfilzten Fransen säumten sie immer noch ein, die Schränke und Türen quietschten beim Öffnen und Schließen wie eh und je, die Fußböden knarrten an denselben Stellen, der Handlauf der Verandatreppen war noch an derselben Stelle rissig, jede Treppenstufe ausgetreten, am Geländer baumelte derselbe Blumentopf in seinem Drahtkorb. Nichts ging mich was an. Ich war eingesperrt in mich und aus mir herausgeworfen, ich gehörte nicht ihnen und fehlte mir.

Bevor ich ins Lager kam, waren wir siebzehn Jahre zusammen, teilten uns die großen Gegenstände wie Türen, Schränke, Tische, Teppiche. Und die kleinen Dinge wie Teller und Tassen, Salzstreuer, Seife, Schlüssel. Und das Licht der Fenster und der Lampen. Jetzt war ich ein Ausgewechselter. Wir wussten voneinander, wie wir nicht mehr sind und nie mehr werden. Fremdsein ist bestimmt eine Last, aber Fremdeln in unmöglicher Nähe eine Überlast. Ich hatte den Kopf im Koffer, ich atmete russisch. Ich wollte nicht weg und roch nach Entfernung. Ich konnte nicht den ganzen Tag im Haus zubringen. Ich brauchte eine Arbeit, um das Schweigen zu verlassen. Ich war jetzt 22 Jahre alt, hatte aber nichts gelernt. Ist Kistennagler ein Beruf, ich war wieder Handlanger.

Im August kam ich am späten Nachmittag aus der Kistenfabrik, und auf dem Verandatisch lag ein Brief für mich. Er war vom Rasierer Oswald Enyeter. Mein Vater sah mir beim Lesen zu, wie wenn einem jemand auf den Mund schaut beim Essen. Ich las:

Lieber Leo! Hoffentlich bist du wieder in der Heimat. Bei uns zu Hause war niemand mehr. Ich bin weitergezogen nach Österreich. Jetzt wohne ich in Wien — Margareten, viele Landsleute von uns sind hier. Vielleicht kommst du einmal nach Wien, dann kann ich dich wieder rasieren. Ich habe bei einem Landsmann wieder eine Stelle als Friseur gefunden. Tur Prikulitsch hat verbreitet, dass er im Lager der Rasierer war und ich der Kapo. Bea Zakel hat sich zwar von ihm getrennt, trotzdem behauptet sie das weiter. Ihr Kind hat sie Lea getauft. Hat das was mit Leopold zu tun? Vor zwei Wochen haben Bauarbeiter Tur Prikulitsch unter einer Donaubrücke gefunden. Sein Mund war geknebelt mit seiner Krawatte, und seine Stirn war mit der Axt in der Mitte durchgehackt. Die Axt lag auf seinem Bauch, von den Mördern keine Spur. Schade, dass ich es nicht war. Er hat es verdient.

Als ich den Brief zusammenlegte, fragte mein Vater:

Hast du ein Kind in Wien.

Ich sagte: Du hast den Brief gelesen, das steht aber nicht drin.

Er sagte: Man weiß ja nicht, was ihr im Lager alles gemacht habt.

Man weiß es nicht, sagte ich.

Die Mutter hielt meinen Ersatzbruder Robert an der Hand. Und Robert hielt den mit Sägemehl ausgestopften Stoffhund, den Mopi, auf dem Arm. Dann ging die Mutter mit Robert in die Küche. Als sie wiederkam, hielt sie an der einen Hand den Robert und in der anderen einen Teller Suppe. Und Robert presste den Mopi an seine Brust und hielt in der Hand den Löffel für die Suppe. Also für mich.

Seit ich in der Kistenfabrik war, streunte ich nach Feierabend durch die Stadt. Die Winternachmittage schützten mich, weil es früh dunkel war. Die Vitrinen der Geschäfte standen in gelbem Licht wie Haltestellen. Neu ausstaffiert warteten darin zwei, drei Gipsmenschen auf mich. Sie standen eng beieinander, mit Preisschildern vor den Fußspitzen, als müssten sie aufpassen, wo sie hintreten. Als wären die Preisschilder vor ihren Füßen Markierungen der Polizei, als wäre, kurz bevor ich kam, ein Toter weggetragen worden. Die kleineren Auslagen standen in Fensterhöhe. Sie waren vollgestopft mit Porzellan- und Blechgeschirr. Ich trug sie im Vorbeigehen wie Schubladen auf der Schulter. In einem traurigen Licht warteten lauter Sachen, die länger halten, als die Leute leben, die sie kaufen. Vielleicht so lang wie das Gebirge. Vom Großen Ring zog es mich in die Wohnstraßen. In den Fenstern hingen beleuchtete Vorhänge. Die verschiedensten Spitzenrosetten und Zwirnlabyrinthe hatten den gleichen schwarzen Widerschein vom nackten Baumgeäst. Und den Leuten in den Zimmern entging, dass ihre Vorhänge lebten und ihren weißen Zwirn in einer ständig anderen Mischung mit schwarzem Holz kombinierten, weil der Wind schlug. Erst an den Straßenenden war der Himmel frei, ich sah den Abendstern schmelzen und hängte mein Gesicht dran. Und dann war Zeit genug vergangen, und ich konnte sicher sein, dass alle schon gegessen haben, wenn ich nach Hause komme.

Ich hatte es verlernt, mit Messer und Gabel zu essen. Mir zuckten nicht nur die Hände, auch das Schlucken im Hals. Ich wusste, wie man hungert und das Essen streckt oder verschlingt, wenn man es endlich hat. Wie lang man kaut und wann man schluckt, um manierlich zu essen, wusste ich nicht mehr. Der Vater saß mir gegenüber, und die Tischplatte schien mir so groß wie die halbe Welt. Er schaute mir mit halbgeschlossenen Augen zu und verbarg sein Mitleid. Im Blinzeln leuchtete dann sein ganzes Entsetzen wie die rosa Quarzhaut an seiner Innenlippe. Der Großmutter gelang es am besten, mich ohne Umstände zu schonen. Sie kochte die dicken Suppen wahrscheinlich, damit ich mich mit Messer und Gabel nicht quäle.

An dem Augusttag, als der Brief kam, gab es grüne Bohnensuppe mit Rippchenfleisch. Nach dem Brief war mir der Hunger vergangen. Ich schnitt mir eine dicke Scheibe Brot, aß zuerst die Krümel vom Tisch, dann begann ich zu löffeln. Mein Ersatzbruder kniete auf dem Boden, stülpte seinem Stoffhund das Teesieb als Mütze auf den Kopf und setzte ihn rittlings auf die Schubladenkante des Verandaschränkchens. Alles, was Robert tat, war mir unheimlich. Er war ein zusammengebautes Kind — seine Augen von der Mutter, alt und rund und abendblau. Die Augen werden so bleiben, dachte ich. Seine Oberlippe von der Großmutter wie ein Spitzkragen unter der Nase. Die Oberlippe wird so bleiben. Seine gewölbten Fingernägel waren vom Großvater, sie werden so bleiben. Seine Ohren von mir und meinem Onkel Edwin, die eingedrehten Falten, die sich an den Ohrläppchen oben glattbiegen. Sechs gleiche Ohren aus dreierlei Haut, denn die Ohren werden so bleiben. Seine Nase wird nicht so bleiben, dachte ich, Nasen ändern sich, wenn sie wachsen. Später ist sie vielleicht vom Vater, mit der knochigen Kante an der Nasenwurzel. Wenn nicht, hat Robert gar nichts von ihm. Dann durfte der Vater zu dem Ersatzkind nichts dazutun.