Oft gab es keine Wolke, nur einerlei Blau wie offenes Wasser.
Oft gab es nur eine geschlossene Wolkendecke, einerlei Grau.
Oft liefen die Wolken, und kein Haken hielt still.
Oft brannte der Regen in den Augen und klebte mir die Kleider an die Haut.
Oft zerbiss der Frost mir die Eingeweide.
An solchen Tagen drehte mir der Himmel die Augäpfel hinauf, und der Appell zog sie hinunter — die Knochen hingen ohne Halt nur in mir allein.
Der Kapo Tur Prikulitsch stelzte zwischen uns und dem Kommandanten Schischtwanjonow herum, in seinen Fingern verrutschten die Listen, verkrumpelt vom vielen Blättern. Jedesmal, wenn er eine Nummer rief, wackelte seine Brust wie bei einem Hahn. Er hatte immer noch Kinderhände. Meine Hände waren im Lager gewachsen, viereckig, hart und flach wie zwei Bretter.
Wenn einer von uns nach dem Appell seinen ganzen Mut zusammennahm und einen der Natschalniks oder gar den Lagerkommandanten Schischtwanjonow fragte, wann wir nach Hause dürfen, sagten sie kurz: SKORO DOMOJ. Das hieß: Bald fahrt ihr.
Dieses russische BALD stahl uns die längste Zeit der Welt.
Beim Rasierer Oswald Enyeter ließ sich Tur Prikulitsch auch die Nasenhaare und die Fingernägel schneiden. Der Rasierer und Tur Prikulitsch waren Landsleute aus dem Dreiländereck der Karpato-Ukraine. Ich fragte, ob es im Dreiländereck üblich ist, dass man den besseren Kunden in der Rasierstube die Nägel schneidet. Der Rasierer sagte: Nein, so ist das nicht im Dreiländereck. Es kommt von Tur, nicht von zu Hause. Von zu Hause kommt der Fünfte nach dem Neunten. Was das heißt, fragte ich. Der Rasierer sagte: Ein bisschen Balamuk. Was das heißt, fragte ich. Er sagte: Ein bisschen Durcheinander.
Tur Prikulitsch war kein Russe wie Schischtwanjonow. Er sprach deutsch und russisch, gehörte aber zu den Russen, nicht zu uns. Er war zwar ein Internierter, aber der Adjutant der Lagerleitung. Er teilte uns ein auf dem Papier in Arbeitsbataillone und übersetzte die russischen Befehle. Und tat seine eigenen auf deutsch dazu. Auf dem Papier ordnete er zur Bataillonsnummer unsere Namen und Arbeitsnummern für die Gesamtübersicht. Jeder musste sich seine Nummern Tag und Nacht merken und wissen, dass wir Nummerierte, keine Privatleute sind.
Tur Prikulitsch schrieb in die Rubriken neben unsere Namen Kolchos, Fabrik, Schutträumen, Sandtransport, Bahnstrecke, Baustelle, Kohletransport, Garage, Koksbatterie, Schlacke, Keller. Was neben dem Namen stand, davon hing alles ab. Ob wir müde, hundsmüde oder todmüde werden. Ob wir nach der Arbeit noch Zeit und Kraft haben zum Hausieren. Ob wir unbemerkt im Küchenabfall hinter der Kantine wühlen dürfen.
Tur Prikulitsch geht nie auf Arbeit, in kein Bataillon, in keine Brigade, in keine Schicht. Er herrscht, darum ist er agil und abschätzig. Wenn er lächelt, ist es ein Hinterhalt. Wenn man sein Lächeln erwidert, was man ja muss, ist man blamiert. Er lächelt, weil er hinterm Namen in die Rubrik etwas Neues eingetragen hat, Schlimmeres. Zwischen den Baracken auf dem Lagerkorso weiche ich ihm aus, bevorzuge eine Entfernung, aus der man nicht reden kann. Er stellt die glänzenden Schuhe wie zwei Lacktäschchen von hoch oben auf den Gehweg, als falle die leere Zeit durch die Sohlen aus ihm heraus. Er merkt sich alles. Man sagt, auch was er vergisst, wird ein Befehl.
In der Rasierstube ist Tur Prikulitsch mir überlegen. Er sagt, was er will, nichts ist riskant. Es ist sogar besser, wenn er uns verletzt. Er weiß, dass er uns kleinhalten muss, damit es so bleibt. Er streckt den Hals und spricht immer nach unten. Er hat den ganzen Tag Zeit, um sich zu gefallen. Mir gefällt er auch. Er ist athletisch gebaut, hat messinggelbe Augen mit einem öligen Blick, kleine anliegende Ohren wie zwei Broschen, ein Kinn aus Porzellan, die Nasenflügel rosig wie Tabakblüten, sein Hals wie Kerzenwachs. Dass er sich nie dreckig macht, ist sein Glück. Und sein Glück macht ihn schöner als er es verdient. Wer den Hungerengel nicht kennt, kann auf dem Appellplatz kommandieren, auf dem Lagerkorso stelzen, in der Rasierstube schleichend lächeln. Aber mitreden kann er nicht. Ich weiß mehr über Tur Prikulitsch, als ihm lieb ist, weil ich Bea Zakel gut kenne. Sie ist seine Geliebte.
Die russischen Befehle hörten sich an wie der Name des Lagerkommandanten Towarischtsch Schischtwanjonow, ein Knirschen und Krächzen aus Ch, Sch, Tsch, Schtsch. Den Inhalt der Kommandos verstanden wir sowieso nicht, aber die Verachtung. An Verachtung gewöhnt man sich. Mit der Zeit klangen die Befehle nur noch wie ständiges Räuspern, Husten, Niesen, Schneuzen, Spucken — wie Schleimauswerfen. Die Trudi Pelikan sagte: Das Russische ist eine verkühlte Sprache.
Wenn alle anderen sich noch im Stillstehen beim Abendappell quälten, hatten die Schichtarbeiter, die vom Appell ausgenommen waren, schon ihr Feuerchen im Lagerwinkel hinterm Brunnen angezündet. Schon den Kochtopf drauf mit Meldekraut oder anderen seltenen Dingen, die einen Deckel brauchten, damit man sie nicht sieht. Rüben, Kartoffeln, sogar Hirse, wenn sich ein schlaues Tauschgeschäft gelohnt hatte — zehn Rübchen für eine Jacke, drei Maß Hirse für einen Pullover, ein halbes Maß Zucker oder Salz für ein Paar Schafwollsocken.
Für ein Extraessen brauchte der Topf unbedingt einen Deckel. Deckel gab es keine. Vielleicht ein Stück Blech und das vielleicht auch nur in Gedanken. Egal wie, man hat den Deckel für den Topf jedesmal aus irgendwas erfunden. Und man sagte stur: Da muss ein Deckel drauf. Obwohl es nie ein Deckel war, nur die Redensart vom Deckel war noch da. Vielleicht deckelt sich die Erinnerung, wenn man nicht mehr weiß, woraus der Deckel war und wenn es sowohl nie als auch immer, egal aus was, einen Deckel gab.
Jedenfalls flackerten im Lagerwinkel hinterm Brunnen im Abendwerden an die fünfzehn bis zwanzig Feuerchen zwischen zwei Ziegelsteinen. Alle anderen hatten nichts zum privaten Kochen neben dem Kantinenfraß. Die Kohle machte Rauch, die Topfbesitzer hielten Wache mit dem Löffel in der Hand. An Kohle gab es keinen Mangel. Die Töpfe waren aus der Kantine, miserables Essgeschirr der Lokalindustrie. Graubraun emaillierte Blechgefäße voller Blattern und Dellen. Auf dem Feuer im Hof waren es Töpfe, auf dem Kantinentisch Teller. Wenn einer sein Essen fertiggekocht hatte, warteten andere Topfbesitzer darauf, das Feuer zu übernehmen.
Wenn ich nichts zum Kochen hatte, schlängelte mir der Rauch durch den Mund. Ich zog die Zunge einwärts und kaute leer. Ich aß Speichel mit Abendrauch und dachte an Bratwurst. Wenn ich nichts zu kochen hatte, ging ich in die Nähe der Töpfe und tat so, als würde ich mir vorm Schlafengehen am Brunnen die Zähne putzen. Doch bevor ich die Zahnbürste in den Mund steckte, aß ich zweimal. Mit dem Augenhunger aß ich das gelbe Feuer und mit dem Gaumenhunger den Rauch. Während ich aß, war um mich her alles still, und vom Fabrikgelände drüben fiel durch die Dämmerung das Rumpeln der Koksbatterien. Ich wurde langsamer, je schneller ich vom Brunnen weg wollte. Ich musste mich losreißen von den Feuerchen. Im Rumpeln der Koksbatterien hörte ich das Magenknurren, das ganze Abendpanorama hatte Hunger. Der Himmel senkte sich schwarz auf die Erde, und ich wankte in die Baracke ins gelbe Dienstlicht der Glühbirne.
Das Zähneputzen ging auch ohne Zahnpasta. Die von zu Hause mitgebrachte war längst schon alle. Und Salz war viel zu wertvoll, das hätte man nicht ausgespuckt, das war ein Vermögen wert. An das Salz und seinen Wert kann ich mich erinnern. An das Zahnbürstchen überhaupt nicht. Mitgenommen im Necessaire habe ich eins. Aber das kann keine vier Jahre gehalten haben. Und eine neue Zahnbürste kaufte ich mir, wenn überhaupt, erst im fünften und letzten Jahr, als wir Geld auf die Hand kriegten, Bargeld für unsere Arbeit. Doch auch an meine neue Zahnbürste, wenn es sie gegeben hat, kann ich mich nicht erinnern. Vielleicht wollte ich für mein Bargeld auch lieber neue Kleider als eine neue Zahnbürste. Meine erste sichere Zahnpasta, die ich von zu Hause mitgenommen hatte, hieß CHLORODONT. Dieser Name kann sich an mich erinnern. Die Zahnbürsten, sowohl die sichere erste als auch die mögliche zweite, haben mich vergessen. Genauso ist es mit meinem Kamm. Einen muss ich ja gehabt haben. An das Wort BAKELIT kann ich mich erinnern. Zu Kriegsende waren bei uns zu Hause alle Kämme Bakelitkämme.