Wegen ein zwei Gästen stehen mir die Muster der Erregung im Kopf. Auch wenn ich weiß, dass sie erstarrt wie Nippfiguren in einer Vitrine sind, geben sie sich jung. Auch wenn sie wissen, dass ich nicht zu ihnen passe, weil ich vom Alter geplündert bin. Einmal war ich vom Hunger geplündert und passte nicht mehr zu meinem Seidenschal. Ich wurde wider Erwarten mit neuem Fleisch genährt. Doch gegen das Plündern des Alterns hat noch niemand neues Fleisch erfunden. Ich glaubte früher, ich lasse mich in der Nacht nicht ganz umsonst ins sechste, siebte, sogar achte Lager deportieren. Ich kriege die fünf gestohlenen Jahre als Verzögerung des Altwerdens vielleicht wieder zurück. Es ist nicht so gekommen, das Abdanken des Fleisches rechnet anders. Es ist innen öde und glitzert draußen im Gesicht als Augenhunger. Und der sagt:
Du bist noch immer Das Klavier.
Ja, sage ich, das Klavier, das nicht mehr spielt.
Von den Schätzen
Kleine Schätze sind die, auf denen steht: Da bin ich.
Größere Schätze sind die, auf denen steht: Weißt du noch.
Die schönsten Schätze aber sind die, auf denen stehen wird: Da war ich.
Da war ich, soll auf den Schätzen stehen, meinte Tur Prikulitsch. Unterm Kinn stieg mir der Kehlkopf auf und ab, als hätte ich meinen Ellbogen geschluckt. Der Rasierer sagte: Noch sind wir hier. Das Fünfte kommt nach dem Neunten.
Ich glaubte damals in der Rasierstube noch, wenn man hier nicht stirbt, ist es später Danach. Man ist weg aus dem Lager, frei, womöglich sogar wieder zu Hause. Dann kann man sagen: Da war ich. Aber das Fünfte kommt nach dem Neunten, man hat ein bisschen Balamuk gehabt, also verworrenes Glück, und muss auch sagen wo und wie. Und wieso sollte einer wie Tur Prikulitsch später zu Hause aus freien Stücken sagen, dass er Glück gar nicht nötig hatte.
Vielleicht hat sich schon damals jemand aus dem Lager vorgenommen, Tur Prikulitsch nach dem Lager umzubringen. Einer, mit dem der Hungerengel herumlief, während Tur Prikulitsch die Schuhe wie Lacktäschchen auf dem Lagerkorso trug. In der Hautundknochenzeit hat vielleicht einer beim Appell oder im Karzer unzählige Male im Kopf geübt, wie man Tur Prikulitsch die Stirn in der Mitte durchhacken könnte. Oder stand dieser Eine damals bis zum Hals im verwehten Schnee an einer Bahnstrecke oder auf der Jama bis zum Hals in der Kohle oder in der Carjera im Sand oder im Zementturm. Oder lag er in seinem Bettgestell schlaflos im gelben Dienstlicht der Baracke, als er Rache geschworen hat. Vielleicht hat er den Mord sogar am selben Tag geplant, als Tur in der Rasierstube mit öligem Blick von den Schätzen sprach. Oder in dem Moment, als er mich im Spiegel fragte: Wie ist es denn bei euch im Keller. Vielleicht sogar in dem Augenblick, als ich sagte: Gemütlich, jede Schicht ist ein Kunstwerk. Vermutlich ist auch ein Mord mit der Krawatte im Mund und der Axt auf dem Bauch ein verspätetes Kunstwerk.
Ich weiß mittlerweile, dass auf meinen Schätzen Da bleib ich steht. Dass mich das Lager nach Hause gelassen hat, um den Abstand herzustellen, den es braucht, um sich im Kopf zu vergrößern. Seit meiner Heimkehr steht auf meinen Schätzen nicht mehr Da bin ich, aber auch nicht Da war ich. Auf meinen Schätzen steht: Da komm ich nicht weg. Immer mehr streckt sich das Lager vom Schläfenareal links zum Schläfenareal rechts. So muss ich von meinem ganzen Schädel wie von einem Gelände sprechen, von einem Lagergelände. Man kann sich nicht schützen, weder durchs Schweigen noch durchs Erzählen. Man übertreibt im Einen wie im Anderen, aber Da war ich gibt es in beidem nicht. Und es gibt auch kein richtiges Maß.
Aber die Schätze gibt es, da hat Tur Prikulitsch recht behalten. Meine Heimkehr ist ein verkrüppeltes, ständig dankbares Glück, ein Überlebenskreisel, der sich wegen jedem Dreck zu drehen beginnt. Er hat mich in der Hand wie alle meine Schätze, die ich weder ausstehen noch loslassen kann. Ich gebrauche meine Schätze seit über 60 Jahren. Sie sind schwächelnd und zudringlich, intim und widerlich, vergesslich und nachtragend, abgenutzt und neu. Sie sind Artur Prikulitschs Mitgift und von mir nicht zu unterscheiden. Wenn ich sie aufzähle, komme ich ins Straucheln.
Meine stolze Unterlegenheit.
Meine zugemaulten Angstwünsche.
Meine unwillige Eile, ich springe von Null sofort auf Total.
Meine trutzige Nachgiebigkeit, in der ich allen recht gebe, damit ich es ihnen vorwerfen kann.
Mein verstolperter Opportunismus.
Mein höflicher Geiz.
Mein matter Sehnsuchtsneid, wenn Leute wissen, was sie vom Leben wollen. Ein Gefühl wie stockende Wolle, kalt und kraus.
Meine steile Ausgelöffeltheit, dass ich von außen bedrängt und innen hohl bin, seit ich nicht mehr hungern muss.
Meine seitliche Durchschaubarkeit, dass ich beim Einwärtsgehen auseinander komme.
Meine plumpen Nachmittage, die Zeit rutscht langsam mit mir zwischen die Möbel.
Mein gründliches Imstichlassen. Ich brauche viel Nähe, aber ich gebe mich nicht aus der Hand. Ich beherrsche das seidene Lächeln im Zurückweichen. Seit dem Hungerengel erlaube ich niemandem, mich zu besitzen.
Der schwerste meiner Schätze ist mein Arbeitszwang. Er ist die Umkehr der Zwangsarbeit und ein Rettungstausch. In mir sitzt der Gnadenzwinger, ein Verwandter des Hungerengels. Er weiß, wie man alle anderen Schätze dressiert. Er steigt mir ins Hirn, schiebt mich in die Verzauberung des Zwangs, weil ich mich fürchte, frei zu sein.
Aus meinem Zimmer sieht man den Uhrturm auf dem Grazer Schlossberg. An meinem Fenster steht ein großes Reißbrett. Auf meinem Schreibtisch liegt mein letzter Bauplan wie ein abgeschossenes Tischtuch. Er ist staubig wie der Sommer draußen auf den Straßen. Wenn ich ihn betrachte, kann er sich nicht an mich erinnern. Vor meinem Haus geht seit dem Frühjahr täglich ein Mann spazieren mit einem kurzhaarigen weißen Hund und einem extrem dünnen schwarzen Spazierstock, der als Griff nur eine schwache Biegung hat, wie eine vergrößerte Vanillestange. Wenn ich wollte, könnte ich den Mann grüßen und ihm sagen, sein Hund gleicht einem weißen Schwein, auf dem das Heimweh früher durch den Himmel reiten konnte. Im Grunde möchte ich einmal mit dem Hund reden. Es wäre gut, wenn der Hund einmal allein oder mit der Vanillestange unterwegs wäre, ohne den Mann. Vielleicht kommt es eines Tages so. Ich bleibe sowieso hier wohnen, und die Straße bleibt auch, wo sie ist, und der Sommer geht noch lang. Ich habe Zeit und warte.
Am liebsten sitze ich an meinem weißen Resopaltischchen, 1 Meter lang und 1 Meter breit, ein Quadrat. Wenn der Uhrturm halb drei schlägt, fällt die Sonne ins Zimmer. Auf dem Fußboden ist der Schatten meines Tischchens ein Grammophonkoffer. Er spielt mir das Lied vom Seidelbast oder die plissiert getanzte Paloma. Ich hole das Kissen vom Sofa und tanze in meinen plumpen Nachmittag.
Es gibt auch andere Partner.
Ich habe auch schon mit der Teekanne getanzt.
Mit der Zuckerdose.
Mit der Keksschachtel.
Mit dem Telefon.
Mit dem Wecker.
Mit dem Aschenbecher.
Mit dem Hausschlüssel.
Mein kleinster Partner ist ein abgerissener Mantelknopf.
Ist nicht wahr.
Einmal lag unter dem weißen Resopaltischchen eine staubige Rosine. Da hab ich mit ihr getanzt. Dann habe ich sie gegessen. Dann war eine Art Ferne in mir.