Kann es sein, dass ich die von zu Hause mitgebrachten Sachen eher vergessen habe als die im Lager erworbenen. Und wenn, liegt es daran, dass sie mit mir mitgekommen waren. Dass ich sie besaß und weiter benutzte, bis sie abgenutzt waren und darüber hinaus, so als wäre ich mit ihnen nicht woanders, sondern zu Hause. Kann es sein, dass ich mich an die Gegenstände der anderen besser erinnern kann, weil ich sie ausleihen musste.
Gut erinnern kann ich mich an die Blechkämme im Lager. Sie kamen in der Läusezeit auf. Die Dreher und Schlosser machten sie in der Fabrik und schenkten sie den Frauen. Sie waren aus Aluminiumblech mit schartigen Zähnen und fühlten sich in der Hand und auf der Kopfhaut feucht an, weil sie einen kalten Hauch hatten. Wenn man mit ihnen hantierte, übernahmen sie schnell die Körperwärme, dann rochen sie bitter wie Rettich. Der Geruch blieb in der Hand, wenn man den Kamm längst weggelegt hatte. Mit den Blechkämmen machten die Haare Nester, man musste zerren und ziehen. In den Kämmen blieben mehr Haare hängen als Läuse.
Aber es gab fürs Läusekämmen auch viereckige, beidseitig gezahnte Hornkämme. Die Dorfmädchen hatten sie von zu Hause mitgebracht. Auf einer Seite dicke Zähne zum Scheitelziehen und Haareteilen, auf der anderen Seite sehr feine Zähne zum Läusekämmen. Die Hornkämme waren solide, lagen schwer in der Hand. Die Haare ließen sich ziehen und blieben glatt. Die Hornkämme konnte man sich von den Dorfmädchen leihen.
Seit sechzig Jahren will ich mich in der Nacht an die Gegenstände aus dem Lager erinnern. Sie sind meine Nachtkoffersachen. Seit der Heimkehr aus dem Lager ist die schlaflose Nacht ein Koffer aus schwarzer Haut. Und dieser Koffer ist in meiner Stirn. Ich weiß nur seit sechzig Jahren nicht, ob ich nicht schlafen kann, weil ich mich an die Gegenstände erinnern will, oder ob es umgekehrt ist. Ob ich mich mit ihnen herumschlage, weil ich sowieso nicht schlafen kann. So oder so, die Nacht packt ihren schwarzen Koffer gegen meinen Willen, das muss ich betonen. Ich muss mich erinnern gegen meinen Willen. Und auch wenn ich nicht muss, sondern will, würde ich es lieber nicht wollen müssen.
Manchmal überfallen mich die Gegenstände aus dem Lager nicht nacheinander, sondern im Rudel. Darum weiß ich, dass es den Gegenständen, die mich heimsuchen, gar nicht oder nicht nur um meine Erinnerung geht, sondern ums Drangsalieren. Kaum denke ich, dass ich Nähzeug im Necessaire mitgenommen hatte, da mischt sich das Handtuch ein, von dem ich nicht weiß, wie es aussah. Dazu kommt eine Nagelbürste, von der ich nicht weiß, ob ich sie hatte. Dazu noch ein Taschenspiegel, den es gab oder nicht. Dazu eine Handuhr, von der ich nicht weiß, wo sie hingekommen ist, falls ich sie mitgenommen hatte. Gegenstände, die vielleicht nichts mit mir zu tun hatten, suchen mich. Sie wollen mich nachts deportieren, ins Lager heimholen, wollen sie mich. Weil sie im Rudel kommen, bleiben sie nicht nur im Kopf. Ich hab ein Magendrücken, das in den Gaumen steigt. Die Atemschaukel überschlägt sich, ich muss hecheln. So eine Zahnkammnadelscherenspiegelbürste ist ein Ungeheuer, so wie der Hunger ein Ungeheuer ist. Und es gäbe die Heimsuchung der Gegenstände nicht, wenn es den Hunger als Gegenstand nicht gegeben hätte.
Wenn mich nachts die Gegenstände heimsuchen und mir im Hals die Luft abdrosseln, reiße ich das Fenster auf und halte den Kopf ins Freie. Am Himmel steht ein Mond wie ein Glas kalte Milch, sie spült mir die Augen. Mein Atem findet wieder seinen Takt. Ich schluck die kalte Luft, bis ich nicht mehr im Lager bin. Dann schließe ich das Fenster und leg mich wieder hin. Das Bettzeug weiß von nichts und wärmt. Die Luft im Zimmer schaut mich an und riecht nach warmem Mehl.
Zement
Zement reichte nie. Kohle gab es mehr als genug. Auch Schlackoblocksteine, Schotter und Sand gab es genug. Der Zement aber ging immer aus. Er wurde von sich aus weniger. Man musste sich in acht nehmen vor dem Zement, er konnte zum Alptraum werden. Nicht nur von sich aus, sogar in sich selbst konnte Zement verschwinden. Dann war alles voller Zement, und es war kein Zement mehr da.
Der Brigadier schrie: Auf Zement muss man aufpassen.
Der Vorarbeiter schrie: Zement muss man sparen.
Und wenn der Wind ging: Zement darf nicht wegfliegen.
Und wenn es regnete oder schneite: Zement darf nicht nass werden.
Zementsäcke sind aus Papier. Das Zementsackpapier ist zu dünn für einen vollen Sack. Man kann den Sack allein oder zu zweit tragen, am Bauch oder an seinen vier Ecken packen — er reißt. Mit einem zerrissenen Sack kann man Zement nicht mehr sparen. Bei einem trockenen zerissenen Zementsack läuft die Hälfte auf den Boden. Bei einem feuchten zerrissenen Zementsack bleibt die Hälfte am Papier kleben. Man kann es nicht ändern, je mehr man Zement spart, um so mehr verausgabt sich der Zement. Der Zement ist ein Betrug wie Straßenstaub, Nebel und Rauch — er fliegt in der Luft, kriecht auf der Erde, klebt an der Haut. Überall ist er zu sehen und nirgends zu fassen.
Zement muss man sparen, aber aufpassen muss man beim Zement auf sich selbst. Man trägt den Sack mit Gefühl, trotzdem wird der Zement immer weniger. Man wird als Wirtschaftsschädling beschimpft, als Faschist, Saboteur und Zementdieb. Man stolpert durchs Geschrei und stellt sich taub. Den Mörtelkarren schiebt man auf einem schiefen Brett das Gerüst hinauf zu den Maurern. Das Brett schwingt, man hält sich am Karren fest. Man könnte bei dem Schwingen in den Himmel fliegen, weil der leere Magen in den Kopf steigt.
Was wollen die Zementwächter mit ihrem Verdacht. Als Zwangsarbeiter hat man nichts als eine Pufoaika, einen Watteanzug, am Leib und in der Baracke einen Koffer und ein Bettgestell. Wozu sollte man Zement stehlen. Man nimmt ihn nicht als Diebstahl mit, sondern als zudringlichen Dreck. Jeden Tag hat man seinen blinden Hunger, aber Zement kann man nicht essen. Man friert oder schwitzt, aber Zement wärmt nicht und kühlt nicht. Er schürt den Verdacht, weil er fliegt und schleicht und klebt, weil er hasengrau, samtig und amorph ohne Grund verschwindet.
Die Baustelle war hinterm Lager, neben dem Pferdestall, in dem es nur Futtertröge und längst kein Pferd mehr gab. Es wurden sechs Wohnhäuser für Russen gebaut, sechs Zweifamilienhäuser, sagte man uns. Jedes Haus hatte drei Zimmer. Aber wohnen werden in jedem mindestens fünf Familien, dachten wir uns, weil wir beim Hausieren die Armut der Leute sahen und die vielen mageren Schulkinder. Mädchen wie Jungen, alle kahlgeschoren, alle in hellblauen Flügelkleidchen. Immer paarweise, händchenhaltend im Gänsemarsch mit heroischen Liedern durch den Schlamm neben der Baustelle. Hinten und vorn stapfte eine runde stumme Madame, schaute verdrießlich und schaukelte den Hintern wie ein Schiff.
Auf der Baustelle gab es acht Brigaden. Sie gruben Fundamente, schleppten Schlackoblocksteine und Zementsäcke, rührten die Kalkmilch und die Betonmischung an, gossen die Fundamente aus, machten Mörtel für die Maurer, trugen ihn mit der Trage, schoben ihn mit dem Schubkarren aufs Gerüst, machten den Verputz für die Wände. Die sechs Häuser wurden alle gleichzeitig gebaut, ein Hin- und Herlaufen, alles ging durcheinander, und es tat sich fast nichts. Man sah die Maurer, den Mörtel und die Ziegel auf dem Gerüst, aber man sah nicht, dass die Mauern wuchsen.
Es ist das Vertrackte am Bauen — wenn man den ganzen Tag hinschaut, sieht man nicht, wie die Wände wachsen. Nach drei Wochen sind sie dann plötzlich hoch, sie müssen gewachsen sein. Vielleicht über Nacht, selbständig wie der Mond. So unbegreiflich wie der Zement verschwindet, wachsen auch die Wände. Man wird herumkommandiert, fängt etwas an und wird weggejagt. Man wird geohrfeigt und getreten. Man wird innen stur und schwermütig und außen hündisch und feig. Der Zement frisst das Zahnfleisch wund. Wenn man den Mund öffnet, zerreißen die Lippen wie Zementsackpapier. Man hält den Mund und gehorcht.