»Schnauze!« fuhr ihn der Sergeant an und versetzte ihm einen schmerzhaften Tritt in die Seite. »Deserteure haben keine Fragen zu stellen.« Er wandte sich an einen jungen Corporal. »Daniel, kennst du den Namen Bauer? Meines Wissens heißt keiner der Deserteure so.«
Der Corporal schüttelte den Kopf. »Ich kann mich weder an den Namen noch an dieses Sommersprossengesicht erinnern.«
Die übrigen Soldaten schlossen sich dem an. Und alle sprachen deutsch.
»Ich bin kein Deserteur«, sagte Martin. »Das muß eine Verwechslungsein.«
Während er sprach, überlegte er, wo er die Buchstaben >GRV< auf den Käppischildern schon einmal gesehen hatte.
Eine durch das Unterholz kommende Gruppe Soldaten enthob ihn der Antwort. Sie wurden von einem berittenen Offizier angeführt, dessen längliches, hartes Gesicht mit dem schwarzen Spitzbart er sofort erkannte. Er trug noch den angeberisch wirkenden Hut mit der langen weißen Feder, den er bereits in New York auf dem Kopf gehabt hatte.
Der Mann in der tadellos sitzenden Uniform war Hauptmann Gerber von den German Rifle Volunteers, einem New Yorker Freiwilligenregiment. Er hatte Martin und Jacob bei deren Ankunft im Auswandererdepot Castle Garden rekrutieren wollen und wäre mit seinen Männern fast handgreiflich geworden, als die beiden jungen Auswanderer nichts von ihm wissen wollten. Nur das Eingreifen eines Depotbeamten hatte eine handfeste Auseinandersetzung verhindert.
Der Hauptmann zügelte seinen Grauschimmel kurz vor Martin und dem Sergeant und fragte, was los sei.
»Wir haben einen der Deserteure gefaßt, Herr Hauptmann. Aber er weigert sich, uns seinen richtigen Namen zu nennen.«
»Das ist keiner der Deserteure«, stellte Gerber nach einem kurzen Blick auf Martin fest. Er wollte sich wieder an den Sergeant wenden, als er den Auswanderer erneut ansah und seine schwarzen Brauen zusammenzog. »Aber ich kenne den Mann. Irgendwo habe ich ihn schon gesehen. He du, wie ist dein Name, Bursche?«
»Martin Bauer.«
»Das sagt mir nichts«, meinte der Offizier nach kurzem Überlegen. »Aber dein Gesicht kenne ich, das ist sicher. Ich habe nämlich ein hervorragendes Gedächtnis, was Gesichter betrifft. Bei welcher Gelegenheit haben wir uns kennengelernt?«
»Wir kennen uns nicht«, log Martin. Er hatte das erste Zusammentreffen mit Hauptmann Gerber nicht in angenehmer Erinnerung und hielt es für besser, den Offizier im unklaren zu lassen.
Gerber schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Mein Gedächtnis täuscht mich bestimmt nicht. Wenn ich mich nur erinnern könnte. Einer meiner Rekruten bist du wohl nicht gewesen.«
Wieder zog er die Brauen zusammen und zugleich seine Stirn in Falten. Plötzlich hellte sich sein Blick auf, und ein unangenehmes Lächeln glitt über sein Gesicht.
»Natürlich, jetzt weiß ich es. New York, Castle Garden! Du und dein Freund, ihr habt euch geweigert, unserem Regiment beizutreten!«
Er stieg vom Pferd und übergab die Zügel einem Corporal. Dicht vor Martin blieb er stehen und sah auf ihn herunter.
»Ich habe mir sehr gewünscht, euch noch einmal wiederzutreffen. Ihr habt euch gegenüber unserer Uniform sehr respektlos verhalten. Den fehlenden Respekt werde ich dir jetzt beibringen.«
»Sie sollten mir lieber helfen«, sagte Martin und setzte sich auf.
Gerber sah ihn erstaunt an. »Helfen? Wobei?«
»Unser Schiff ist überfallen und versenkt worden, von Männern in blauen Uniformen.«
»Also war es ein Rebellenschiff!«
»Nein, es war ein Kanonenboot der Union, die USS RAVAGER. Es ist nur wenige Meilen flußaufwärts passiert.«
»Warum sollten Unionssoldaten ihr eigenes Kanonenboot versenken?«
Martin schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß es so gewesen ist. Wenn wir uns beeilen, können wir vielleicht noch jemanden retten.«
Gerber betrachtete ihn zweifelnd und sagte dann zu dem Sergeant: »Der Mann ist klitschnaß. Haben Sie ihn im Fluß gefunden?«
»Ja, Herr Hauptmann.«
»Ich bin über Bord gesprungen«, erklärte Martin.
Der Offizier strich überlegend über seinen Spitzbart und meinte schließlich: »Ich glaube dir nicht, Bursche. Deine Geschichte paßt hinten und vorn nicht. Dieses Gebiet ist fest in der Hand der Union. Und Unionssoldaten überfallen bestimmt nicht ein Schiff ihrer eigenen Marine. Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, du machst gemeinsame Sache mit den Deserteuren und lügst uns an, um sie zu decken.«
»Ich lüge nicht!«
»Natürlich lügst du. Du hast ja auch gelogen, als ich dich fragte, woher wir uns kennen.« Gerber wandte sich an den Sergeant. »Fesseln Sie den Mann! Wir werden ihn ins Lager bringen und dort einem Verhör unterziehen.«
Er hatte kaum ausgesprochen, als Martin beide Hände um Gerbers rechten Stiefel gelegt hatte und ihm den Fuß wegriß.
Wie ein gefällter Baum krachte der Offizier zu Boden, was Verwirrung unter seinen Männer stiftete. Das Pferd scheute, stieg mit den Vorderhufen in die Luft und traf dabei den Corporal, der die Zügel hielt, an der Stirn. Der Mann stöhnte laut auf und sackte neben seinem Hauptmann nieder.
Martin sprang auf und sah, daß der Sergeant auf ihn schießen wollte. Im letzten Moment schlug Martin dessen Waffenarm nach oben, und die Kugel flog in die Luft. Ein Ellbogenstoß gegen die Brust brachte auch den Sergeant zu Fall.
Dann war Martin bei dem Grauschimmel, beruhigte ihn, so gut es ging, und schwang sich in den Sattel. Auf dem Bauernhof seiner Eltern hatte er recht gut reiten gelernt. Er trieb das Tier an und preschte davon, von lauten Rufen und einer ganzen Schußsalve begleitet. In ihrer Aufregung hatten die Männer nicht richtig gezielt. Die Kugeln klatschten in Baumstämme oder zerfetzten Blattwerk, ließen aber Pferd und Reiter unbehelligt.
Zu Martins Glück war Gerber Hauptmann bei einem Infanterieregiment. Alle übrigen Soldaten waren unberitten und deshalb nicht in der Lage, ihn zu verfolgen. Bald waren sie aus seinem Blickfeld verschwunden.
Er lenkte den Grauschimmel flußabwärts. Irgendwo in dieser
Richtung mußten Irene und Jamie sein.
*
Die McMillan-Farm lag in einem kleinen, von sanft geschwungenen grünen Hängen umgebenen Tal. Alec Marquand atmete erleichtert auf, als das Wohnhaus, die angrenzenden Stallungen und diverse Einzäunungen für Schweine, Ziegen und Hühner vor ihm auftauchten. Die Schußwunde machte ihm auf dem holprigen Kutschbock schwer zu schaffen, und er sehnte sich nach etwas Ruhe.
Nachdem er Nate Hellers Leiche beiseite geschafft hatte und weitergefahren war, war ihm sehr schnell klargeworden, daß sich sein ursprünglicher, in der ersten Überraschung gefaßter Plan vermutlich nicht verwirklichen ließ. Er wußte nicht, wo sich Quantrills Trupp aufhielt. Ihn zu suchen hätte zu viel Zeit gekostet. Wenn die Hilfe zu lange ausblieb, würden Lincoln und seine Begleiter mißtrauisch werden.
Marquand hatte sich an die McMillan-Farm erinnert, die ein Stützpunkt der Konföderierten im Feindesland war. Er kannte McMillan und seine vier Söhne nicht, aber sie sollten treue Verbündete des Südens sein. Mit ihrer Hilfe wollte er Lincolns Bewacher überwältigen und den Präsidenten festsetzen. Wenn das geschehen war, blieb Zeit genug, um nach Quantrill zu suchen.
Je näher er den Farmgebäuden kam, desto unsicherer wurde er. Obwohl die Tiere draußen herumliefen, schien niemand zu Hause zu sein. Vor dem Wohnhaus hielt er den Einspänner an und stieg unter Schmerzen vom Bock.
»Sie bewegen sich hübsch langsam, Mister«, bohrte sich eine rauhe Stimme in seinen Rücken. »Bleiben Sie dabei, sonst spicke ich Sie mit einer Ladung Schrot!«
Marquands Körper erstarrte, aber sein Geist überschlug sich. Er dachte an seine Chancen, den Remington-Revolver an seiner Hüfte oder den Derringer in seiner Jacke zu ziehen, herumzuwirbeln und den Unbekannten hinter ihm auszuschalten. Sein schlechter Gesundheitszustand ließ ihm diese Chancen verschwindend gering erscheinen.