Der Gedanke an ihre Freunde ließ sie noch schweigsamer werden. Sie machte sich mit dem Gedanken vertraut, beide verloren zu haben. Das kleine Bündel Mensch, für das Jacob und Martin die Patenschaft übernommen hatten, war alles, was ihr geblieben war. Und natürlich Carl, falls sie ihn jemals fand in diesem großen, wilden Land.
Sie war so in ihre Gedanken versunken, daß sie richtig erschrak, als die vier Männer plötzlich aufstanden und nach ihren Waffen griffen. Rodenberg schob mit dem Fuß Erde ins Feuer, bis es gelöscht war.
»Was ist?« fragte Irene.
»Leise«, zischte Rodenberg. »Cord hat etwas gehört.«
Die Männer schlichen zum buschbewachsenen Rand der Senke, und Irene folgte ihnen langsam, mit der einen Hand den schlafenden Jamie, mit der anderen die Decke haltend. Dann hörte auch sie es: Hufgetrappel, das rasch näher kam.
»Ich glaube es nicht«, zischte Hamker, der am weitesten in das Buschwerk vorgedrungen war.
»Was denn?« fragte Glaser.
»Es ist Gerber!«
Die Gesichter der Männer erstarrten.
»Bist du sicher, Cord?« hakte Glaser nach.
»Und wie! Ihr wißt, daß ich ein Pferdenarr bin. Gerbers Grauschimmel würde ich unter tausend Tieren sofort erkennen.«
»Dann sind wir erledigt«, murmelte Eimers. »Sie haben uns!«
»Nein«, widersprach Hamker. »Gerber ist allein. Er scheint es sehr eilig zu haben.«
Glaser riß seine Muskete hoch und drang zu Hamker vor. »Dann holen wir uns den Menschenschinder jetzt. Er wird keinen mehr auspeitschen oder brandmarken lassen!«
Neugierig drang Irene mit Rodenberg und Eimers ebenfalls weiter in die Büsche vor, während die beiden anderen bereits ihre Musketen anlegten. Bald sah sie den Reiter, tief über den Grauschimmel gebeugt, der offenbar dicht an ihrem Versteck vorbeigaloppieren wollte.
»Der Reiter trägt keine Uniform«, stellte Rodenberg das fest, was auch der jungen Frau gerade aufgefallen war.
»Dann stirbt Gerber eben in Zivil«, meinte Hamker und zielte genau auf den Reiter, der in diesem Moment den Kopf hob.
Irene schlug den Musketenlauf zur Seite, wovon Hamker so erschrocken war, daß er den Schuß auslöste.
»Verdammt!« stieß der Deserteur hervor. »Was sollte das?«
»Das ist nicht Gerber, sondern Martin!«
»Martin?« echote Hamker.
»Einer meiner beiden Freunde, die mit mir auf der RAVAGER waren.«
»Sie hat recht«, sagte Rodenberg erregt. »Das ist nicht Gerber!«
Durch den Schuß alarmiert, trieb Martin den Grauschimmel zu größerer Eile an. Irene lief aus den Büschen ins Freie und rief laut seinen Namen.
Martin hielt sein Pferd an, als er Irene erkannte, wendete es und ritt zu ihr zurück.
»Du kannst absteigen, Martin«, sagte die Frau.
»Und der Schuß?«
»Ein Irrtum. Wir hielten dich erst für Hauptmann Gerber.«
Martin rutschte aus dem Sattel. Er und Irene fielen sich in die Arme.
Schließlich fragte sie, ob er etwas von Jacob gehört hatte.
»Nein, nichts«, antwortete Martin und schüttelte traurig den rotblonden Kopf.
*
»Das war's«, lachte Bloody Bill Andersen, als sich Jacob nicht mehr rührte. »Dem dreckigen Yankee-Schwein ist die Puste ausgegangen.«
William Quantrill sprang von der großen Vorratskiste auf, auf der er thronte. »Hast du ihn etwa umgebracht, Bill?«
»Sieht ganz so aus«, verkündete Quantrills Unterführer mit einem breiten Grinsen. »Diesem Dutch ist die Luft weggeblieben.«
»Dann kann er uns nichts mehr verraten!« empörte sich der Captain.
»Was soll's. Dafür haben wir ja noch den Seemann. Der wird schon sein Maul auf-«
Das letzte Wort ging in einem gurgelnden Laut unter, als Jacobs rechte Faust unter Andersons Kinnlade krachte, gefolgt von der linken Faust des Deutschen. Bloody Bill verlor das Gleichgewicht und fiel zur Seite, von Jacob herunter.
Jacob war heilfroh, daß sein Plan funktioniert hatte. Sonst wäre er jetzt tatsächlich tot gewesen. Er hatte den toten Mann gespielt, um seinen Gegner zu täuschen. Und der Prahlhans Anderson war tatsächlich darauf hereingefallen und hatte von Jacob abgelassen, bevor diesem wirklich die Luft wegblieb. Er hätte es keine zehn Sekunden mehr ausgehalten.
Jetzt atmete er gierig die Luft ein, während er sich taumelnd erhob.
Die Freischärler wurden mucksmäuschenstill. Anfangs hatten fast alle mit einem leichten Sieg ihres Unterführers gerechnet. Der Kampf hatte jetzt eine Wendung genommen, die aller gebannte Aufmerksamkeit beanspruchte. Auch Quantrill sah seinem Fortgang mit neugierig aufgerissenen Augen zu.
Als Anderson wieder auf die Beine kam, stand Jacob längst über ihm und deckte ihn mit einem Schlaghagel ein, der den Vollbärtigen immer wieder zu Boden schickte. Sobald er sich erhob, fing er sich neue Hiebe ein. Bald war Andersons Bart rot vom Blut, das aus vielen Platzwunden in seinem Gesicht lief.
Jacob trieb seinen Gegner in den Bach hinein, in dem Anderson schließlich auf allen vieren kniete. Er wirkte mit dem durchnäßten Bart und langen Haar wie eine überdimensionale nasse Katze. Eine ausnehmend häßliche Katze.
Doch als sich die Katze aus dem Wasser erhob, war sie ein gefährliches Raubtier, das statt scharfer Pranken und Reißzähne einen Revolver benutzte. Der Hahn klickte gefährlich, als Anderson die Waffe auf Jacob richtete.
»Genug gespielt, Dutch«, keuchte Bloody Bill, am Ende seine Kräfte. »Jetzt fährst du ohne Umschweife zur Hölle!«
Ein Schuß krachte und noch einer.
Der erste riß Anderson die Waffe aus der Hand und schleuderte sie ans Ufer. Der zweite erfolgte, als der Hahn von Andersons Revolver beim Aufprall auf dem Boden auf das Zündhütchen schlug.
In der Nähe der Kontrahenten stand Frank James mit rauchender Waffe und sah Anderson mit einem unschuldigen Lächeln an. »Tut mir leid, Bill, aber du warst nicht ganz fair. Außerdem nützt dem Captain ein toter Gefangener nichts.«
Anderson sah seinen Kameraden haßerfüllt an, stieß einen wütenden Schrei aus und stapfte aus dem Wasser, um sich erneut mit Jacob anzulegen. Aber der Freischärler war am Ende seiner Kräfte und dem jungen Zimmermann nicht mehr gewachsen. Nach einem kurzen Schlagabtausch lag Bloody Bill auf der Wiese, alle viere von sich gestreckt.
Plötzlich war das Geschehen in ihrer Mitte für die Freischärler nicht mehr interessant. Der Kreis öffnete sich. Die Männer bildeten eine Gasse für einen zivil gekleideten Reiter, der auf einem erschöpften Pferd ins Lager ritt und vor Quantrill aus dem Sattel sprang. Dabei verlor der Reiter seinen Hut, und Jacob erkannte, daß es ein etwa sechzehnjähriges Mädchen war.
*
Tate McMillan berichtete Quantrill von dem Mann, der auf ihre Farm gekommen war, und von Abraham Lincoln und Allan Pinkerton. Jacob, der noch immer auf dem Kampfplatz stand, konnte alles mit anhören.
Quantrill sah Jacob an und strahlte über das ganze Gesicht. »Du hast ja wirklich die Wahrheit gesagt, sieh an. Ein ehrlicher und tapferer Mann. Schade, daß du nicht auf unserer Seite stehst. Männer wie dich kann ich immer gebrauchen.«
Jacob verstand, daß dies die Aufforderung war, sich Quantrills Schar anzuschließen. Aber allein der Gedanke, zu dieser Mordbande zu gehören, widerte ihn an. Und das sagte er Quantrill auch.
Das Lächeln auf dessen Gesicht blieb, war aber nurmehr eine Maske. »Wenn das so ist, brauchen wir dich nicht mehr.« Er wandte sich an seine Männer. »Wir haben es eilig und können die Gefangenen nicht mitnehmen. Liquidiert sie!«
Als die Männer ihre Revolver ziehen wollten, war Jacob schneller und richtete Andersons Waffe, die er bei der Ankunft des Mädchens, die alle abgelenkt hatte, aus dem Gras aufgelesen und unter seiner Jacke versteckt hatte, auf den Guerillaführer. »Ich mag diese Art Waffe nicht, Quantrill, aber ich denke, ich kann sie benutzen. Wenn Ihre Männer auf mich schießen, nehme ich Sie auf jeden Fall mit, wohin auch immer.«