Er erhielt keine Antwort. Irene, Martin und den drei Deserteuren war bewußt, daß ein Verteidiger nichts an ihrer Situation geändert hätte. Hauptmann Gerber wollte eine Farce mit ihnen veranstalten, die mit einem ordentlichen Gerichtsverfahren nichts zu tun hatte.
»Die Gefangenen wollen sich also selbst verteidigen«, stellte der Offizier fest. »Ist mir recht. Sergeant Meyer, bereiten Sie alles für die Verhandlung vor!«
Keine zehn Minuten später begann unter freiem Himmel eine der seltsamsten Gerichtsverhandlungen, an denen Martin und Irene jemals teilgenommen hatten. Vielleicht ausgenommen die auf dem Auswandererschiff ALBANY, wo ebenfalls schon vorher der Ausgang festgestanden hatte. Aber damals war das Schiffsgericht wenigstens formal richtig einberufen worden und ordentlich besetzt gewesen.
Sergeant Meyer trug die Anklage vor. In den Fällen der Deserteure das unerlaubte Verlassen der Truppe unter Mitnahme von Armee-Eigentum, was als Diebstahl bewertet wurde. Diebstahl wurde auch Martin zur Last gelegt, nämlich Pferdediebstahl. Außerdem sollte er die Deserteure unterstützt haben. Lediglich Irene wurde von der Anklage ausgenommen. Sie sollte im nächsten Ort den Behörden übergeben werden.
Als die Angeklagten, deren Hände jetzt mit Stricken gefesselt waren, zur Stellungnahme aufgefordert wurden, schwiegen die drei Deserteure. Sie wußten, daß sie von Gerber, der den Vorsitz übernommen und zwei Unteroffiziere als Beisitzer bestimmt hatte, keine Gerechtigkeit zu erwarten hatten. Martin trug vor, als Zivilist nicht der Strafgewalt eines Militärgerichtes zu unterliegen.
»Wir haben Krieg!« erwiderte Gerber scharf. »In solchen Zeiten gelten andere Gesetze.«
»Gesetze, die nirgendwo geschrieben stehen und die Sie sich selbst zurechtlegen, wie es Ihnen gerade paßt!« schrie Martin.
Auf Gerbers Wink brachte ihn ein Soldat mit dem Gewehrkolben zum Schweigen.
»Ausflüchte helfen euch nicht«, fuhr der Hauptmann fort. »Ihr habt nichts zu eurer Verteidigung vorbringen können, weil es nichts vorzubringen gibt.«
Er stand von dem kleinen Felsblock auf, der den Richterstuhl ersetzte, und sagte mit salbungsvoller Stimme: »Das Kriegsgericht sieht die Schuld aller vier Angeklagten als erwiesen an und verurteilt sie daher zum Tod. Das Urteil wird auf der Stelle durch ein Exekutionskommando vollstreckt.«
»Nein!« schrie Irene auf. »Das können Sie nicht tun! Das ist unmenschlich. Es ist kaltblütiger Mord!«
Gerber achtete gar nicht auf sie, sondern befahl Sergeant Meyer, das Exekutionskommando zusammenzustellen und das Urteil zu vollstrecken.
Die Verurteilten mußten sich am Rand der Senke in einer Reihe aufstellen. Zwölf Soldaten bildeten eine zweite Reihe, die ihnen gegenüber in zehn Yards Entfernung Aufstellung nahm.
Irene stand fassungslos daneben und beobachtete, wie Meyer seinen Säbel zog, um das Kommando für die tödliche Salve zu geben. Sie wollte etwas sagen, versuchen, den fanatischen Offizier doch noch umzustimmen, aber das Entsetzen über das unglaubliche Geschehen schnürte ihre Kehle zu. Jamie schien zu spüren, das etwas Schreckliches bevorstand, und begann jämmerlich zu weinen. Die Mutter drückte den Kopf des Kindes an ihre Brust, schützte seine Augen vor dem grausigen Geschehen.
Hauptmann Gerber stellte sich neben Sergeant Meyer und sah höchst zufrieden aus. Er genoß offenbar das Schauspiel, wie er auch seine Macht über die Soldaten und seine Opfer genoß.
Er sah die Gefangenen an. »Habt ihr noch etwas zu sagen?«
Das hatte niemand. Nur Hamker spuckte Gerber verächtlich auf die blanken Stiefel.
Zorn blitzte in den Augen des Hauptmanns auf, aber er besann sich. Wahrscheinlich beruhigte ihn der Gedanke an den bevorstehenden Tod des Ex-Corporals.
»Sergeant«, sagte Gerber zu Meyer, »vollstrecken Sie das Urteil!«
»Legt an!« schnarrte der Sergeant und hob seinen Säbel.
Zeitgleich hoben die Soldaten ihre Musketen und brachten sie in Anschlag.
Hufgetrappel lenkte sie davon ab, ihre Ziele anzupeilen. Reiter in blauen Uniformen durchbrachen das Gebüsch und stürmten in die Senke.
Irene jubelte innerlich auf, aber fast augenblicklich wich ihre Freude der Angst. Sie dachte an die Männer in den blauen Uniformen, die auf dem Floß gestanden und das Rettungsboot unter Feuer genommen hatten.
*
»Wo bleibt Heller nur?« fragte Allan Pinkerton zum wiederholten Mal.
Er stand auf der umgestürzten Kutsche, beschattete seine Augen mit der flachen Hand und blickte in beide Richtungen der Landstraße. Bisher war noch niemand vorbeigekommen, auch nicht der Rettungstrupp, den Nate Heller organisieren sollte.
»Ob Sie da oben stehen oder nicht, Allan, das bringt den Hilfstrupp nicht schneller zu uns«, sagte Abraham Lincoln, der seinen Rock ausgezogen hatte und sich mit hochgekrempelten Hemdsärmeln um Paul Donlevy kümmerte.
Mit Bob Lorys Hilfe hatte er die verletzten Beine des Pinkerton-Mannes geschient, obwohl ihnen als einziges Werkzeug das Bowiemesser des bärtigen Kutschers zur Verfügung stand. In seiner Zeit als Anführer einer Grenzertruppe im Krieg gegen den Sauk-Häuptling Black Hawk hatte Lincoln oft auch nicht mehr zur Verfügung gehabt, um Verwundeten zu helfen.
»Allmählich mache ich mir Sorgen«, erwiderte Allan Pinkerton. »Badger Falls, die nächste Ortschaft, ist keine zehn Meilen entfernt. Heller müßte längst zurück sein.«
»Vielleicht hat es Schwierigkeiten gegeben«, meinte Willard Marlow.
»Das befürchte ich«, fuhr Pinkerton fort. »Ich habe diesem Jennings von Anfang an nicht getraut. Wir sollten von hier verschwinden.«
»Wie denn?« fragte Lincolns blasser Privatsekretär. »Die Vorderachse der Kutsche ist gebrochen, und Mr. Donlevy ist kaum in der Lage zu laufen. Wir können ihn nicht aus eigener Kraft fortschaffen.«
»Das ist nicht gesagt«, widersprach Lincoln. »Wir könnten es machen wie die Indianer und ein Travois bauen.«
Marlow sah den Präsidenten fragend an. »Ein Travois?«
»Das ist eine Lastbahre, bestehend aus zwei langen Stangen, die man an einem Pferd festbindet und durch dünne Zweige oder ähnliches verbindet.«
»Darauf kann ein Mann liegen?«
»Ja, wenn man es richtig macht.«
»Ein guter Vorschlag, Mr. President«, befand Pinkerton. »Wir sollten ihn sofort in die Tat umsetzen. Ich habe kein gutes Gefühl dabei, hier noch länger zu warten.«
»Kommen Sie, Bob«, sagte Lincoln zu dem Kutscher. »Suchen wir uns das geeignete Material.«
»Nicht mehr nötig!« rief plötzlich Pinkerton, als Lincoln und Lory gerade tiefer in den Wald gehen wollten. »Da kommen Reiter und ein Wagen.«
»Aus welcher Richtung?« fragte der Präsident.
»Aus der Richtung, in der Badger Falls liegt.«
»Dann könnte es der Hilfstrupp sein.«
»Ja, könnte«, meinte Pinkerton skeptisch und zog seinen sechsschüssigen Colt-Pocket-Revolver aus dem Schulterholster.
»Halten Sie die Waffe für notwendig, Allan?« erkundigte sich Lincoln.
»Ja, für eine notwendige Vorsichtsmaßnahme.«
Auch Lory zog seinen Navy-Colt, während Lincoln Donlevys großkalibrigen Army-Colt an sich nahm.
Auf dem Bock des offenen Kastenwagens, der von zwei kräftigen Braunen gezogen wurde, saßen der Viehhändler Jennings und eine nicht mehr junge Frau, die Pinkerton nicht kannte. Ebensowenig wie die drei jungen Reiter, die dem Wagen folgten. Nach Nate Heller hielt er vergeblich Ausschau.
Der Trupp hielt an. Jennings und die Frau stiegen vom Wagen, während die Reiter in den Sätteln blieben. Der Viehhändler und die Frau kamen durchs Unterholz und blieben vor der umgestürzten Kutsche stehen.
»Wozu der Revolver?« fragte der Mann im grauen Anzug.
»Eine Vorsichtsmaßnahme«, antwortete Pinkerton. »Ich vermisse Mr. Heller.«
»Der konnte nicht mitkommen«, erwiderte der falsche Mr.