Der General war erleichtert.
»Lincoln?« fragte Gerber. »Wieso? Ich verstehe nicht.«
»Der Präsident war unterwegs zu einer Besprechung mit mir. Ich habe erfahren, daß Quantrill ihm irgendwo auflauert. Ich bin ihm entgegengeritten, um ihn zu warnen. Vielleicht ist es noch nicht zu spät. Und deshalb müssen wir sofort weiter.«
»Darf ich mitkommen?« fragte Martin. »Irgendwo flußaufwärts muß mein Freund Jacob stecken.«
»Haben Sie ein Pferd?« fragte Grant.
Martin starrte auf Gerbers Grauschimmel.
»Der Schimmel ist mein Eigentum!« sagte Gerber.
»Nicht mehr«, widersprach Grant. »Kraft der mir übertragenen Befugnisse beschlagnahme ich das Pferd für dienstliche Zwecke der Armee.« »Dieser Mann ist wohl kaum Angehöriger der Armee«, meinte Gerber und zeigte auf Martin.
»Was Sie nicht daran gehindert hat, ihn vor ein Kriegsgericht zu stellen. Außerdem ist Mr. Bauer ab sofort Angehöriger der Armee, denn bis auf weiteres ernenne ich ihn zum Kundschafter.«
»Und was ist mit uns?« fragte Irene, während sie Jamie beruhigend auf ihren Armen schaukelte.
»Sie begleiten die Infanteristen einstweilen in ihr Lager«, sagte Grant. »Das wird das beste sein.« Er sah Meyer an. »Der Sergeant wird sich um Ihr Wohlergehen kümmern. Nicht wahr, Sergeant?«
»Jawohl, Sir«, bestätigte Meyer schnell.
»Und nehmen Sie Bauer endlich die Fesseln ab!«
»Jawohl, Sir.«
*
Wegen des unwegsamen Geländes kam Jacob nicht so schnell voran, wie er es sich wünschte.
In Zeitabständen von etwa fünf Minuten zügelte er den Falben, um nach etwaigen Verfolgern zu lauschen. Aber seltsam, er hörte nichts.
Hatten ihn die Guerillas aus den Augen verloren? Oder waren sie ihm gar nicht gefolgt? Er hatte fest mit einer Verfolgung gerechnet.
Aber vielleicht hatten sie Wichtigeres zu tun. Die Nachricht des Mädchens über den Überfall auf Präsident Lincoln schoß durch seinen Kopf. Ja, Lincolns Ergreifung war für Quantrill natürlich viel wichtiger als Jacobs Verfolgung.
Das Gelände wurde flacher und weniger unwegsam. Jacob spornte den ausgepumpten Falben zu noch größerer Eile an.
Er wußte nicht genau, wo er sich befand. Aber er wußte, daß er schnell jemandem von dem Überfall auf Lincoln erzählen mußte, damit der Präsident Hilfe erhielt.
Vielleicht war Jacob zu sehr in seine Gedanken vertieft, vielleicht war er nicht geübt genug im Reiten, vielleicht war der Falbe zu erschöpft, jedenfalls verfing sich der rechte Vorderhuf des Tieres in einer aus dem Boden ragenden Baumwurzel. Im vollen Galopp stolperte das Pferd, knickte ein und schleuderte seinen Reiter im hohen Bogen aus dem Sattel und gegen einen Baumstamm. Jacobs Kopf krachte gegen die harte Rinde, und um ihn herum wurde es plötzlich Nacht.
*
Ein lauter Knall holte Jacob in die Tagwelt zurück - ein Schuß!
Blinzelnd öffnete er die Augen und glaubte sich in einem Traum gefangen, als er ganz dicht vor sich Martins Gesicht sah. Er blinzelte noch einmal, aber das Gesicht blieb.
»Bin ich im Himmel?« fragte Jacob verwirrt.
»Das will ich nicht hoffen«, entgegnete Martin. »Dann wäre ich nämlich auch im Himmel, und eigentlich weile ich ganz gern unter den Lebenden.«
Allmählich begriff Jacob, daß dies kein Traum war. Mit beiden Händen umfaßte er die Arme seines Freundes, der über ihm kauerte. Martin stieß einen Schmerzensschrei aus, und jetzt erst bemerkte Jacob den Verband an dessen linkem Oberarm.
»Tut mir leid«, sagte Jacob. »Ich freue mich so, daß du lebst! Weißt du etwas von Irene?«
»Ihr und Jamie geht es gut. Aber wie kommst du hierher, Jacob?«
»Dieser Quantrill hat mich in sein Versteck verschleppt, einen Canyon in den Bergen.«
»Quantrill?« fragte der kleine bärtige Offizier auf dem Rappen interessiert und trieb sein Pferd näher heran. »Ist er noch in seinem Versteck?«
Jetzt erst bemerkte Jacob, daß sich in Martins Begleitung etwa fünfzig berittene Soldaten befanden.
»Nein«, antwortete er. »Das glaube ich nicht. Sie haben mich auch nicht verfolgt, als ich floh. Ich nehme an. Sie wollten zur McMillan-Farm, um dort zwei Gefangene zu übernehmen, Präsident Lincoln und Allan Pinkerton.«
»Die McMillan-Farm«, wiederholte Grant, wendete sein Pferd und sah seine Männer an. »Kennt jemand die McMillan-Farm?«
»Ich«, rief ein baumlanger Corporal. »Ich komme aus dieser Gegend!«
Während Grant mit dem Mann sprach, betrachtete Jacob den Falben, der still vor ihm lag. Blut floß aus einer Wunde am Kopf des Tieres. Neben ihm stand ein Sergeant und steckte seinen Revolver zurück ins Holster.
»Wir mußten das Pferd erschießen«, sagte Martin. »Ihm war nicht mehr zu helfen.«
*
Erst als der Wagen auf der Farm hielt, nahmen die McMillan-Boys die Plane ab.
Die Gefangenen blinzelten ins Licht. Nur einer lag völlig ruhig auf dem Rücken, bewegte sich nicht und gab keinen Laut von sich: Paul Donlevy. Lincoln beugte sich über ihn und stellte fest, daß er nicht mehr atmete. Er war unterwegs gestorben.
»Wie?« fragte Allan Pinkerton, als ihnen die Knebel abgenommen wurden.
»Wahrscheinlich hat er die Schmerzen nicht mehr ausgehalten«, meinte Lory. »Dazu noch der beschwerliche Transport hierher. Das hat ihm den Rest gegeben.«
»Was soll's«, meinte Angus McMillan. »Ein dreckiger Yankee weniger!«
Abraham Lincoln baute sich mit seiner ganzen imposanten Größe vor dem Jungen auf. »Ob Yankee oder nicht, ob dreckig oder nicht, er war ein Mensch. Sein Tod ist zu betrauern. Und er hat nicht verdient, daß man so über ihn spricht.«
»Als sie meinen Vater ermordeten, haben die verdammten Yankees noch ganz anders über ihn gesprochen!«
»Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun«, sagte Lincoln.
»Schluß mit der fruchtlosen Debatte!« befahl Marquand und sah Mrs. McMillan an. »Wo können wir die Gefangenen unterbringen, bis Quantrill kommt?«
»In der Scheune gleich neben dem Haus.«
Aber das erübrigte sich, denn in diesem Augenblick sprengte eine Schar blauuniformierter Reiter auf die Farm zu.
Beim Anblick der Uniformen verkrampfte sich erst alles in Marquand, und seine Rechte zuckte zu dem Remington-Revolver an seiner Hüfte. Aber dann entdeckte er Tate McMillan in der Mitte der Reiter und war beruhigt.
Die Neuankömmlinge bildeten einen Kreis um Marquand, die McMillans und die Gefangenen.
Quantrill hielt seinen Braunen vor dem Präsidenten an, stützte sich aufs Sattelhorn und grinste Lincoln an. »Wen haben wir denn da?«
»Mein Name ist Lincoln. Ich nehme an, Sie sind der Bandit Quantrill.«
»Bandit? Ich bin Captain William Clarke Quantrill von der Konföderierten Kavallerie. Und Sie sind jetzt mein Gefangener, Mr. Lincoln.«
Marquand stellte sich und die Gefangenen vor.
»Mr. Pinkerton und Mr. Marlow können wir noch brauchen«, meinte Quantrill. »Wir werden sie mitnehmen. Für diesen Kutscher gilt das allerdings nicht.« Er wandte sich an Bloody Bill Andersen. »Erschießt den Kerl!«
Anderson und die beiden Reiter rechts und links neben ihm, Jesse James und Cole Younger, zogen ihre Revolver.
»Ich hatte recht«, sagte Lincoln bitter zu Quantrill. »Sie sind nichts weiter als ein gemeiner Bandit!«
»Jeder hat seinen Standpunkt«, erwiderte der Guerillaführer mit einem kalten Lächeln. »Los, Bill, macht schon!«
Gerade als Anderson, Jesse James - der einen Verband um die linke Hand trug - und Younger auf den Kutscher anlegten, wurden die Freischärler durch Hufgetrappel abgelenkt. Schüsse krachten, und einige der Partisanen stürzten aus den Sätteln.
Während Jesse James und sein Vetter nach den Angreifern ausschauten, krümmte Anderson den Zeigefinger, um Quantrills Befehl auszuführen. Lincoln senkte den Kopf, rannte wie ein wütender Stier auf den Guerilla-Lieutenant los und rammte dessen Pferd mit solcher Gewalt, daß es scheute und mit seinem Reiter durchging.