Der Präsident war hochzufrieden. Jetzt konnte er Grant mit gutem Gewissen gegen alle Angriffe in Washington verteidigen. Und das würde er müssen, wenn er seinen Plan in die Tat umsetzen wollte, den umstrittenen Offizier zum Oberbefehlshaber sämtlicher Truppen zu ernennen. Lincolns Reise nach Westen hatte ihren Zweck erfüllt.
Es quietschte, als die Stalltür geöffnet wurde. Willard Marlows dünne Gestalt erschien in der Öffnung.
»Was gibt es, Willard?« erkundigte sich Lincoln.
Sein Privatsekretär trat näher. »Ich bin gekommen, um Sie zu töten, Mr. President!«
Er zog die Rechte aus der Rocktasche und hielt einen Revolver, den er einem gefallenen Guerilla abgenommen hatte, in der Hand.
Lincoln sah den blassen Mann entgeistert an. »Warum?«
»Weil ich nach reiflichem Überlegen zu dem Schluß gekommen bin, daß die Sache des Südens gerecht ist. Wir dürfen den Konföderierten Staaten nicht die Selbstbestimmung nehmen. Das wäre undemokratisch.«
»Und die Sklaverei?« fragte Lincoln. »Wollen Sie die weiterhin hinnehmen? Ist sie demokratisch?«
»Das ist eine zweitrangige Frage. Aber ich bin nicht zum Diskutieren gekommen, sondern um das zu vollenden, was Quantrill nicht geglückt ist.« Er stieß den Revolver nach vorn -und stürzte im Krachen des Schusses vornüber.
Aber nicht Marlow hatte geschossen, sondern Allan Pinkerton, der hinter ihm in die Scheune trat und ebenfalls einen Revolver in der Hand hielt.
»Das war in sprichwörtlich letzter Sekunde«, stellte Grant fest. »Ich hatte Marlow schon lange in Verdacht«, sagte Pinkerton. »Der Hinweis auf Ihre geheime Reise an die Front, Mr. President, kam aus Ihrem engsten Vertrautenkreis.«
»Heute habe ich vielen Menschen für die Rettung meines Lebens zu danken«, meinte Lincoln. »Auch Ihnen, Allan. Das macht die Sache mit der RAVAGER zwar nicht wieder gut, gleicht aber Ihr Konto bei mir ein wenig aus.«
»Was ist denn mit der RAVAGER?« wollte Pinkerton wissen.
»Sie haben die Deutschen heimlich nachts an Bord geschickt, damit das Schiff einen besseren Lockvogel abgibt.«
»Ja«, bestätigte Pinkerton ohne Reue. »Das habe ich, und es hat sich bewährt.«
»Fast wären unschuldige Zivilisten gestorben, darunter eine Frau und ein kleines Kind. Auswanderer, die sich erst seit ein paar Wochen in unserem Land befinden, um sich eine neue Zukunft aufzubauen. Eine Zukunft, die durch unsere Schuld fast zerstört worden wäre.«
»So ist der Krieg«, sagte Pinkerton als Erklärung, nicht als Entschuldigung.
Lincoln sah ihn finster an. »Je länger ich ihn führen muß, desto mehr verabscheue ich den Krieg.«
Durch den Schuß alarmierte Soldaten stürmten in den Stall. Marlow war in die rechte Schulter getroffen worden, würde aber durchkommen. Das freute Pinkerton. Nicht weil ein Menschenleben gerettet war, sondern weil er sich von Marlow wertvolle Informationen über das Spionagenetz der Konföderierten erhoffte.
*
Als Lincoln den Stall verließ, trat er auf die beiden Auswanderer zu, die unter dem Vordach des Farmhauses saßen und sich unterhielten. Die Sonne versank langsam hinter den Bäumen im Westen, als wollte sie gnädig ein Tuch über das vergossene Blut dieses Tages breiten.
»Wie kann ich mich bei Ihnen bedanken?« fragte der Präsident.
»Wofür?« wollte Jacob wissen.
»Für Ihre Hilfe. Für die Rettung meines Lebens.«
»Sie sind uns nichts schuldig. Wir sind froh, selbst noch am Leben zu sein. Hoffentlich verläuft unsere weitere Reise weniger aufregend.«
»Ich werde Ihnen Begleitschutz bis nach Cairo geben und dafür sorgen, daß Sie von dort aus eine Schiffspassage den Mississippi hinauf bekommen, wie Sie es geplant hatten.«
»Ist das denn so schwierig?« fragte Martin.
»Normalerweise überhaupt nicht, aber im Krieg schon. Der Krieg verändert alles. Jetzt verkehren auf den Flüssen unseres geteilten Landes mehr Kriegsschiffe als andere Fahrzeuge. Die Passagierschiffe, die noch auf dem Mississippi fahren, sind ziemlich überlaufen, habe ich mir sagen lassen. Aber keine Angst, Sie werden einen Platz finden und zudem auf Staatskosten reisen.« Jacob und Martin bedankten sich.
»Der Staat hat Ihnen zu danken«, wehrte Lincoln ab. »Und ganz besonders ich.«
Der Präsident drehte sich abrupt um und marschierte in die Dämmerung hinaus, auf den Wald zu.
»Wo will er hin?« fragte Martin.
Jacob zuckte mit den Schultern und blickte dem in jeder Beziehung großen Mann nach. »Vielleicht zu sich selbst. Ich bin froh, daß ich nicht seine Last zu tragen habe.«
ENDE
Und so geht das Abenteuer weiter
Früher hatten etliche Schaufelraddampfer den Mississippi befahren; seit Beginn des Bürgerkrieges waren sie selten geworden.
Die QUEEN OF NEW ORLEANS und ihr Schwesterschiff, die QUEEN OF ST. LOUIS, waren die größten und prächtigsten.
Wie sich die Schiffe ähnelten, so auch die Kapitäne. Beide hießen Wilcox. Sie waren Brüder. Und sie haßten einander bis aufs Blut. Ihre Rivalität gipfelte in einem gnadenlosen Rennen auf dem Mississippi. Daß sie damit die Passagiere, darunter Jacob Adler und seine Gefährten, in Lebensgefahr brachten, schien ihnen egal zu sein. Und sie bemerkten auch nicht den mysteriösen Lichtschein, der ihnen dicht unter der Wasseroberfläche folgte.
RAUCH ÜBER DEM MISSISSIPPI
Ein atemlos spannender Roman von J. G. Kastner.