Spätestens seit diesem Vorfall war Lincoln von Pinkertons Fähigkeiten als Detektiv und Agent restlos überzeugt. Er hatte Pinkerton zum Leiter des nordamerikanischen Geheimdienstes machen wollen, war damit aber aus politischen Gründen gescheitert. Also wurde ihm die im Kriegsgebiet neugegründete Spionageabwehr übertragen.
Pinkerton hatte sich als Leiter dieser Organisation schon mehrfach bewährt, jüngstens mit der Meldung, daß auf dem Ohio ein Anschlag auf den Präsidenten verübt werden sollte. Dabei konnte sich Lincoln wirklich nicht erklären, wer den Süden über seine Reise unterrichtet hatte.
Noch nicht einmal im Norden durfte viel davon bekanntwerden, weil er General Grant nicht diskreditieren und das Vertrauen der Soldaten in ihren General nicht unterminieren wollte. Aber die politische Front gegen Grant war immer größer geworden und bezeichnete den Oberkommandierenden des Tennessee-Departments als haltlosen Säufer und militärischen Nichtskönner.
Lincoln teilte diese Meinung nicht, hatte Grant ganz im Gegenteil für Höheres im Sinn. Aber der Präsident war unruhig geworden, weil es beim Kampf um Vicksburg einfach nicht voranging. Deshalb hatte er beschlossen, an die Front zu reisen und sich persönlich ein Bild von der Lage und von General Grant zu machen. In Cairo, wo der Ohio in den Mississippi mündete, sollte das Treffen stattfinden.
In Louisville hatte Lincoln seine Reise auf dem Fluß abgebrochen, als Pinkerton ihn mit der Nachricht von dem möglichen Attentat aufsuchte. Der Leiter der Spionageabwehr hätte es am liebsten gesehen, wenn der Präsident ganz auf die Weiterreise verzichtet hätte. Aber das war nicht Abraham Lincolns Art. Was er einmal angefangen hatte, führte er auch zu Ende.
Deshalb hatte er die Reise auf dem Landweg - zu Pinkertons Entsetzen - mit kleinem Gefolge fortgesetzt, um unerkannt zu bleiben. Bei dem Präsidenten waren nur sein Privatsekretär, der käsegesichtige Willard Marlow, der Kutscher Bob Lory, Allan Pinkerton selbst und zwei seiner besten Männer.
Lincoln fragte sich, ob er damit zu leichtsinnig gewesen war. Er sorgte sich nicht um sein eigenes Leben, sondern um seine Begleiter, die bei einem Überfall auf die Kutsche auch in Gefahr gerieten.
»Es wird schon gutgehen«, murmelte der Präsident versonnen und war sich gar nicht bewußt, laut gesprochen zu haben.
»Was meinen Sie, Sir?« fragte Marlow und sah von dem philosophischen Traktat auf, in dem er las, seit das Tageslicht hell genug dafür war.
»Nichts, Willard. Ich habe nur laut gedacht.«
»Sehen Sie, Mr. President, Sie machen sich dieselben Sorgen wie ich. Wir können nur hoffen, daß die Attentäter auf das Täuschungsmanöver mit der RAVAGER hereinfallen.«
»Hoffentlich war es richtig, das Schiff loszuschicken«, sagte Lincoln. »Was ist, wenn ihm etwas zustößt?«
»Lieutenant Slyde ist ein erfahrener Kommandant, der schon auf sein Schiff und seine Leute achtgeben wird.«
Pinkerton kniff die Lippen zusammen. Fast hätte er sich verplappert und auch von den drei Zivilisten gesprochen, die sich an Bord des Kanonenbootes befanden, um die Sache für mögliche Spione in Louisville glaubhafter zu gestalten.
Lincoln erfuhr besser nichts davon. Pinkerton kannte ihn gut genug, um zu wissen, daß der Präsident absolut nicht davon erbaut war, wenn andere für ihn den Kopf hinhielten. Es hatte schon einige Überredungskunst gekostet, ihm in Washington einen ständigen Leibwächter zur Seite zu stellen. Und wie Pinkerton gehört hatte, machte sich der Präsident immer wieder einen Spaß daraus, seinem Beschützer zu entwischen und ganz allein irgendwo unter der Bevölkerung aufzutauchen.
Lautes Getöse draußen riß den Detektiv und Geheimagenten aus seinen Gedanken. Reflexartig zuckte seine rechte Hand unter die Jacke und wollte den Revolver aus dem Schulterholster reißen, als die vier Männer in der Kutsche durcheinandergewirbelt wurden wie Spielwürfel in einem Knobelbecher.
Die Kutsche hatte die schlecht ausgebaute Straße verlassen und rumpelte mitten in einen Wald hinein. Die großen Räder sprangen über Steine und Baumwurzeln, bis das Gefährt sein Gleichgewicht verlor und auf die Seite stürzte. Ein Schmerzensschrei drang von draußen an die Ohren der vier Männer, von denen keiner ohne Blessuren davongekommen war.
Endlich kam Pinkerton dazu, seine Waffe zu ziehen. Aber wo war der Feind? Gab es überhaupt einen? Was war geschehen?
*
Bob Lory kannte die Straße am Ohio besser als seine drei Frauen, die er überlebt hatte. Er lenkte die Kutsche mit traumwandlerischer Sicherheit über die holprige Piste, als an einer Weggabelung plötzlich ein Einspänner auf die Straße fuhr und Lory den Weg abschnitt. Das einzige, was der bärtige Kutscher noch tun konnte, war, sein Gefährt von der Straße in den Wald zu lenken und zu versuchen, es möglichst rasch zum Stehen zu bringen.
Aber sosehr er auch an den Zügeln riß, es geschah nicht schnell genug. Die Räder sprangen über einen beachtlichen Stein, und die Kutsche verlor ihr Gleichgewicht, stürzte auf die linke Seite. Dabei begrub sie Paul Donlevy, den jungen Pinkerton-Mann, der vom Kutschbock gestürzt war, unter sich.
Lory hörte seine Schmerzensschreie, als er sich vom Boden aufrappelte. Der Pinkerton-Mann war mit den Beinen unter dem Gefährt eingeklemmt. Neben ihm lag sein zerbrochenes Henry-Gewehr.
Es war wie eine Ironie des Schicksals, daß die Kutsche fast zur selben Zeit verunglückte wie die USS RAVAGER. Und daß Donlevy unter ihr auf ähnliche Art eingeklemmt wurde wie der Kommandant des Kanonenbootes unter dem herabgestürzten Ruderboot. Als ließe sich das Schicksal nicht die Karten aus der Hand nehmen, auch nicht von Männern wie Abraham Lincoln und Allan Pinkerton.
Die Insassen der Kutsche stießen die nach oben ragende Tür auf und kletterten aus dem Gefährt. Damit erleichterten sie Donlevys Last etwas.
Als der Präsident, der sich eine Platzwunde an der Stirn zugezogen hatte, das Geschehen überblickte, zog er als erster seinen Rock aus und krempelte die Ärmel hoch. »Wir müssen alle anfassen, rasch, und die Kutsche anheben!«
Er war ein sehr großer Mann mit sehnigen Armen, trotz seiner vielen Jahre als Rechtsanwalt und Politiker nicht verweichlicht. Die harten Jahre seiner Kindheit und Jugend hatten ihn geprägt. Im Jahre 1809 in einer Blockhütte in Kentucky geboren, führte er das rauhe Leben eines Grenzers, der vielen Berufen nachging, um sich und seine Familie zu ernähren. Unter anderem war er Holzfäller und Fährmann gewesen und hatte in den Grenzkriegen gegen die Indianer gekämpft.
Jetzt führte er das Kommando, als die fünf Männer sich daran begaben, Donlevy zu befreien. Er zählte bis fünf, und alle stemmten sich vom Boden hoch, die Arme unter die Kutsche geschoben. Sie schafften es, das Gefährt weit genug anzuheben, daß der eingeklemmte Pinkerton-Mann ins Freie kriechen konnte.
Gerade hatten sie den Wagen wieder hinuntergelassen, als ein großer, schlanker Mann in einem grauen Anzug auf sie zugestapft kam. Sein gutaussehendes Gesicht fiel zum einen durch einen goldenen Ring im rechten Ohr und zum anderen dadurch auf, daß es fast so käsig wirkte wie das von Willard Marlow. Während die seltsame Gesichtsfarbe bei Lincolns Privatsekretär ganz einfach eine Folge fehlenden Sonnenlichtes war, dem sich der notorische Bücherwurm so gut wie nie aussetzte, schien sie bei dem Neuankömmling von einer Krankheit herzurühren. Er bewegte sich sehr langsam und schien selbst beim normalen Gehen schon in Schweiß auszubrechen.
Bob Lory stemmte die Fäuste in die Hüften und rief dem Mann entgegen: »Sind Sie etwa dieser gottverlassene Kerl, der uns mit seinem Einspänner einfach von der Straße gedrängt hat?«
Der Mann mit dem Ohrring blieb stehen und stützte sich mit der Hand an einem Eichenstamm ab. Er mußte erst Atem schöpfen, bevor er sprach. »Ja, das bin ich wohl, Mister. Es tut mir leid, aber das Pferd ist mir durchgegangen.«
In Wahrheit hatte er es einfach eilig gehabt, aber das wollte er nicht sagen, um den Grund für seine Eile nicht verraten zu müssen.