Quantrills Miene verfinsterte sich. »Was ist mit diesem Zivilisten passiert? Habt ihr ihn wenigstens erwischt?«
»Es sah so aus. Die Strömung hat ihn fortgespült.«
»Dann ist also niemand lebend durch eure Linie gekommen.«
»So genau kann man das nicht sagen«, brummte der Bärtige.
Quantrill horchte auf. »Was heißt das, Bill?«
»Das Ruderboot wurde von der Strömung davongetragen. Ich glaube, darin lag eine Frau. Ob sie noch lebte, weiß ich nicht.«
»Eine Frau? Was für eine Frau?«
»Keine Ahnung, Captain. So gut konnten wir sie nicht sehen.«
»Aber Lincoln war nicht an Bord?«
»Mit ziemlicher Sicherheit nicht. War er denn auf dem Schiff?«
»Der Kommandant hüllt sich in das vornehme Schweigen eines Yankee-Offiziers«, antwortete Quantrill und zeigte auf den noch immer bewußtlosen Lieutenant Slyde. Dann sah er Jacob an. »Und dieser komische Vogel hier behauptet, Abraham Lincoln nicht zu kennen. Sieht so aus, als würde er sich lieber erschießen lassen, als die Wahrheit zu sagen.«
Der Bärtige zog ein Bowie-Messer aus einer Lederscheide an seinem Gürtel. »Wenn ich ihn ins Verhör nehme, wird er schon die Wahrheit sagen.«
»Mag sein. Aber nicht jetzt. Wir müssen machen, daß wir hier wegkommen. Ich möchte ungern einem Trupp echter Yankee-Kavallerie in die Arme laufen.«
»Warum nicht?« fragte der Bärtige. »Das wäre doch ein Heidenspaß.«
»Aber diesen Spaß sollten wir uns erst gönnen, wenn wir sicher sein können, daß wir unsere Mission erfüllt haben.«
»Wenn Lincoln an Bord des Schiffes war, ist er mit ziemlicher Sicherheit verbrannt oder ersoffen, Captain.«
»Richtig, Bill. Wenn er es war.«
Quantrill befahl seinem insgesamt etwa vierzig Mann starken Trupp, sich zum Aufbruch zu rüsten. Jacob und Slyde wurden gefesselt und auf Packpferde geladen. Der Zimmermann saß aufrecht auf seinem Tier, während der noch immer bewußtlose Marineoffizier quer über einen Pferderücken gelegt wurde.
Jacob machte sich im Augenblick kaum Gedanken über seine Lage. Die Worte des Bärtigen gingen ihm nicht aus dem Kopf. Er war sich ziemlich sicher, daß der Anführer des Reitertrupps von Martin und Irene gesprochen hatte. Gab es Hoffnung, daß beide noch am Leben waren?
Irene vielleicht.
Aber Martin schien erschossen worden zu sein.
*
Wasser!
Um ihn herum war nichts als. Wasser.
Oder doch nicht?
Er konnte atmen, sah das Blau des Himmels, das Grün des Uferstreifens.
Mechanisch begann Martin zu schwimmen, und sofort sandte sein linker Arm mahnende Schmerzwellen durch seinen Körper. So heftig, daß er die Schwimmbewegungen am liebsten sofort wieder eingestellt und sich treiben lassen hätte.
Aber das Ufer war so nah, greifbar nah! Er durfte jetzt nicht aufgeben!
Der kräftige Mann schwamm weiter, und zu den Armschmerzen gesellte sich ein heftiges, Übelkeit erregendes Pochen in seinem Kopf.
Allmählich kehrte Martins Erinnerung zurück. Der Untergang der RAVAGER. Das Rettungsboot mit Irene und Jamie. Das Floß mit den Mordschützen in den blauen Uniformen. Das Seil, sein Messer und die beiden Kugeln, die ihn getroffen hatten.
Er hob den Kopf aus dem Wasser und sah sich um. Vergebens. Nichts war mehr zu sehen von dem Kanonenboot, dem Floß oder dem Ruderboot. Keine uniformierten Todesschützen, keine Matrosen, aber auch keine Spur von Irene und Jamie.
Er sah nur die blaugrünen Fluten des Ohio um sich herum, das leuchtende Blau des Himmels über sich und das immer näher kommende Ufer, aus dessen Grün sich einzelne Bäume und Sträucher herauslösten.
Martin vollzog noch seine Schwimmbewegungen, als die Füße längst festen Boden unter sich spürten. Aber sein Gehirn benötigte eine halbe Minute, um zu begreifen, daß er gerettet war.
Halb stolpernd watete er an Land und ließ sich dort auf das grasbewachsene Ufer fallen. Ein paar erschrockene Vögel stiegen aus einem nahen Baum auf und flatterten landeinwärts.
Als Kind hatte Martin alle Vögel um die Kunst des Fliegens beneidet. Jetzt ließen ihn die gefiederten Tiere kalt. Er wollte sich ebensowenig in die Lüfte erheben wie zurück ins Wasser gehen. Er war heilfroh, an Land zu sein, streckte sich dort aus, preßte sein Gesicht und seinen ganzen Körper gegen das Gras und genoß das Wissen, nicht untergehen zu können.
Die Schmerzen ließen allmählich nach. Die Sonne verbreitete eine wohlige Wärme und trocknete seine nasse Kleidung, seinen frierenden Körper. Mit diesem wohligen Gefühl schlief er ein.
Geräusche weckten ihn nach ungewisser Zeit. Er lag immer noch bäuchlings im Gras, als er die Augen aufschlug und die Spitzen eines Stiefelpaares sah, schwarz und blankpoliert. Sein Blick wanderte höher, erfaßte den blauen Stoff einer Uniformhose und schließlich den ganzen Mann in der Uniform der Nordstaatler. Er stand über ihm und hielt einen Revolver auf Martins Kopf gerichtet. In den Augen des mittelgroßen, breitschultrigen Mannes mit den Streifen eines Sergeants auf den Ärmeln las Martin unverhohlenen Triumph.
»Endlich haben wir einen der Burschen gefaßt«, sagte der Sergeant zu den acht anderen Uniformierten, die Martin ebenfalls umstanden und ihre Gewehren auf ihn gerichtet hielten.
Die Mordschützen! schoß es dem Deutschen durch den Kopf. Die Männer vom Floß hatten ihn also doch noch erwischt. Alle Anstrengungen waren vergeblich gewesen.
Alle?
Vielleicht hatte er wenigstens Irene und Jamie die Flucht ermöglichen können.
*
Als das Ruderboot, von dem spitzen Felsen aufgeschlitzt, zersplitterte, drückte Irene ihren kleinen Sohn an sich und versuchte von den gefährlichen Felsen wegzukommen. Die Wellen schlugen über ihr zusammen. Irene bemühte sich vergebens, Jamie über der Wasseroberfläche zu halten.
Sie glaubte ihren Sohn schon verloren, als sie plötzlich von kräftigen Armen ergriffen wurde. Die Arme zogen sie nach oben, aus dem Wasser heraus, und hielten sie fest, bis sie Land unter ihren Füßen spürte.
Zwei Männer in blauen Uniformen hatten Mutter und Kind ans Ufer geholt, wo zwei weitere Uniformierte warteten, ihre Musketen in den Händen.
Freund oder Feind, fragte sich Irene. Als sie die blauen Uniformen sah, hatte sie an die Männer vom Floß gedacht. Aber warum sollten die ihr helfen, wo sie doch zuvor auf alle Insassen des Ruderbootes geschossen hatten?
Aber zunächst waren die Männer unwichtig für Irene. Sie sah nur ihren Sohn reglos neben sich liegen. Er wirkte wie tot.
Ängstlich und erschrocken hob sie Jamie hoch, legte ihn über ihre Schulter, klopfte auf seinen Rücken, immer heftiger. Sie redete auf ihn ein, er möge einen Laut von sich geben.
Irgendwann hustete Jamie, so stark, daß er sich gar nicht wieder beruhigen wollte. Aber seine Mutter atmete erleichtert auf, auch als Jamies Husten schließlich in ein lautes Weinen überging.
»Ist ja schon gut, kleiner Jamie«, sagte sie und schaukelte ihn sanft hin und her. »Ist ja gut. Jetzt ist alles vorbei.«
Einer der Männer, die Irene und Jamie aus dem Fluß gezogen hatten, ein blondgelockter Jüngling, fragte in ihrer Muttersprache: »Sie sind Deutsche?«
Irene nickte verblüfft. »Sie auch?«
Jetzt nickte der Blonde. »Ja, und meine Freunde ebenfalls. Ich heiße Chris, Chris Rodenberg.« Dann stellte er seine drei Kameraden vor.
»Ihr habt jetzt genug Förmlichkeiten ausgetauscht!« fuhr ein vollbärtiger Mann namens Cord Hamker dazwischen. Er war einer der beiden Männer mit den Musketen und trug sein Käppi tief in die Stirn gezogen. »Wir sollten hier verschwinden, ehe uns jemand sieht.«
Irene wußte nicht, was sie von den vier Männern halten sollte. Sie schienen nicht zu denen zu gehören, die auf das Ruderboot geschossen hatten, und doch ging von diesem Hamker eine gewisse Feindseligkeit aus.