Dick Francis
Außenseiter(Longshot)
Kapitel 1
Ich hatte einen Auftrag angenommen, der von vier anderen Autoren bereits abgelehnt worden war, doch war ich damals ziemlich hungrig.
Obwohl die Aussicht auf ein Hungerleiderdasein in einer Dachkammer im Jahr zuvor noch recht verlockend gewesen war, nahm die Wirklichkeit im verschneiten Januar unter den eingefrorenen Regenrinnen des Hauses der Tante eines Freundes dramatische Formen an. Da mir ein entsprechendes Einkommen, das mich einigermaßen ernährt und gekleidet hätte, fehlte, war ich zur allzu leichten Beute für überstürzte Entscheidungen geworden.
An meinem Zustand war ich natürlich selbst schuld. Ohne Schwierigkeiten hätte ich mich nach einer gutbezahlten körperlichen Betätigung umsehen können; ich mußte nicht zitternd vor Kälte in einem Skianzug herumsitzen, an einem Bleistiftstummel herumkauen, mich über mein Notizbuch beugen und an mir selbst, meinen Fähigkeiten und den Hirngespinsten, die mir durch den Kopf jagten, verzweifeln.
Die spartanische Ungemütlichkeit war auch nicht dem Sumpf des Selbstmitleids, das aus dem Elend des Versagens entspringt, zuzuschreiben. Nein, es handelte sich vielmehr um den bodenlosen Tiefpunkt zwischen zwei berauschenden Gipfeln, nämlich der kurz zuvor erfolgten Zusage, daß mein erster Roman veröffentlich werden sollte, und dem noch weit entfernten Zeitpunkt, zu dem er sich in die höchsten literarischen Umlaufbahnen katapultieren würde. Nach der berauschenden Entgegennahme der ersten Vorschußzahlung und ihrer alsbaldigen Aufteilung in alte Schulden, aktuelle Lebenskosten und die Miete für die nächsten sechs Monate im voraus hatte jetzt die Ernüchterung eingesetzt.
Zwei Jahre sollten genügen, hatte ich mir gedacht, als ich der Sicherheit eines geregelten Einkommens Lebewohl sagte: Wenn es mir nicht gelingt, innerhalb von zwei Jahren veröffentlicht zu werden, dann will ich gerne zugeben, daß der Zwang zu schreiben eine fixe Idee ist, und mich wieder auf den gesunden Menschenverstand verlassen. Es war schon ein verzweifelter Schritt gewesen, auf die Gehaltsüberweisungen einfach zu husten, doch ich hatte versucht, vor der Arbeit zu schreiben, nach der Arbeit, im Zug und am Wochenende. Es war jedoch nur Müll dabei herausgekommen. Eine übersehbare Zeitspanne in stiller Abgeschiedenheit, ohne Vorwände und Ausreden, so hatte ich es mir ausgemalt, würde die Sache so oder so klären. Die anfängliche Überdrehtheit tat meinem intensiven Gefühl des Glücks keinen Abbruch; ich hatte die Zehen in die ersten Spalten der Felswand gesetzt.
Da ich mich mit dem Überleben in widrigen Umständen zufällig recht gut auskannte, konnte die Aussicht auf magere Zeiten mich nicht besonders schrecken. Im Gegenteil, ich freute mich darauf, wie auf eine Art Bewährungsprobe für meinen Scharfsinn. Was ich nicht berücksichtigt hatte, war die Tatsache, daß man schon vom Herumsitzen und Nachdenken allein ordentlich friert. Ich hatte nicht gewußt, daß ein beschäftigtes Hirn den inaktiven Händen und Füßen klammheimlich Wärme entzieht. Bei meinen sämtlichen vorherigen Erfahrungen mit extremer Kälte war ich immer in Bewegung gewesen.
Der Brief von Ronnie Curzon kam an einem besonders kalten Morgen, als sich die Eisblumen wie eine halb he-runtergelassene Jalousie über die Innenseite des Dachfensters im Haus der Tante meines Freundes ausbreiteten. Dieses Fenster, mit seiner schönen Aussicht über die Themse bei Chiswick, über die dahinsegelnden Möwen und den Schlamm bei Ebbe, dieses Fenster, meine Wonne, hatte am meisten dafür gesorgt, daß sich meine Hirngespinste in Worte verwandelten. Ich hatte einen Stuhl auf ein Podest gerückt, damit ich von dort beim Schreiben den weiten Blick über den baumgesäumten Horizont von Kew Gardens genießen konnte. Noch nie hatte ich bislang einen auch nur halbwegs passablen Satz zustande gebracht, wenn ich direkt auf eine weiße Wand schaute.
«Lieber John«, stand in dem Brief.
«Würdest Du mal bei mir im Büro vorbeischauen? Es gibt da eine Anfrage hinsichtlich der amerikanischen Lizenzen für Dein Buch. Könnte interessant für Dich sein. Wir sollten auf alle Fälle einmal darüber reden.
Schöne Grüße, Ronnie. Warum hast Du kein Telefon wie jeder andere normale Mensch?«
Amerikanische Lizenzen! Nicht zu glauben.
Gar wundersam erwärmte sich der Tag. Amerikanische Lizenzen, solche Sachen passierten nur erfolgreichen Autoren, nicht irgendwelchen Leuten, die sich auf unbekanntem Terrain abrackerten, von Selbstzweifeln und Unsicherheit zernagt und darauf angewiesen, daß man ihnen ein ums andere Mal bestätigte, daß das Buch prima sei, es ist prima, machen Sie sich keine Sorgen.
«Machen Sie sich keine Sorgen«, hatte Ronnie herzlich gesagt, als er mich nach Durchsicht des Manuskripts, das ich einige Wochen zuvor ohne Ankündigung auf seinem Schreibtisch abgeladen hatte, zu sich einlud.»Machen Sie sich keine Sorgen, ich bin sicher, daß wir einen Verleger für Sie finden werden. Überlassen Sie alles mir. Ich werde sehen, was ich tun kann.«
Tatsächlich hatte Ronnie Curzon, seines Zeichen literarischer Agent, mit der Zungenfertigkeit des Handelsmannes einen Verlag für mich ausfindig gemacht; obendrein gleich ein renommiertes Haus, an das ich mich selbst nie herangewagt hätte.
«Die haben dort ein breites Programm«, klärte er mich freundlich auf.»Die können es sich leisten, ein paar Erstlinge aufzunehmen, obwohl das alles nicht mehr so einfach ist wie früher. «Er seufzte.»Unterm Strich muß eben alles wieder stimmen, und so weiter und so fort. Trotz alledem«, strahlte er mich an,»trotz alledem haben sie Sie zum Essen eingeladen, zum gegenseitigen Kennenlernen. Das ist die gute Nachricht.«
Ich hatte mich allmählich an Ronnies schnelle Umschwünge zum Pessimismus und zurück gewöhnt. Er erzählte mir, daß ich mit unheimlich viel Glück zweitausend Exemplare verkaufen würde, und im gleichen Atemzug, daß eine gewisse Schriftstellerin ihre Taschenbuchauflagen in Millionen abrechnete.
«Möglich ist alles«, sagte er aufmunternd.
«Auch, daß ich auf die Schnauze fliege?«wollte ich wissen.
«Machen Sie sich keine Sorgen.«
An dem Tag, als der Brief wegen der amerikanischen Lizenzen kam, ging ich vom Haus der Tante meines Freundes die vier Meilen zu Ronnies Büro in der Kensington High Street wie üblich zu Fuß. Da ich inzwischen so einiges dazugelernt hatte, machte ich mich nicht überstürzt auf den Weg, sondern erst etwas später, so daß ich Schlag Mittag bei Ronnie ankam. Kurz nach Mittag, so hatte ich herausgefunden, bot Ronnie seinen Besuchern gern ein Glas Wein an und ließ ein paar Sandwiches besorgen. Ich hatte ihm nicht viel hinsichtlich meiner beschränkten häuslichen Situation erzählt. Er war einfach von Hause aus ein großzügiger Mensch.
Ich hatte wohl die Situation falsch eingeschätzt, denn die sonst immer sperrangelweit geöffnete Tür zu seinem Büro war fest zu.
«Er spricht gerade mit einem anderen Klienten«, sagte Daisy.
Daisy lächelte freundlich. Eine Tugend, die man bei Empfangsdamen höchst selten antrifft. Große weiße Zähne in einem schwarzen Gesicht. Wilde Frisur. Einwandfreier Oxford-Akzent. Sie lernte Italienisch in der Abendschule.
«Ich gebe rasch durch, daß Sie hier sind«, sagte sie, nahm den Hörer ab, drückte einen Knopf und besprach sich mit ihrem Chef.
«Sie möchten bitte einen Moment warten«, teilte sie mir mit. Ich nickte und ließ mich geduldig auf einem der beiden leidlich bequemen Sessel nieder, die genau zu diesem Zweck dort hingestellt worden waren.
Zu Ronnies Büroräumen gehörte ein Vorzimmer mit einem großen Wandregal voller Akten und den Schreibtischen von Daisy und ihrer Schwester Alice, die sich um die komplizierten Buchungen der Firma kümmerte; in der Mitte stand ein großer Tisch, auf dem kreuz und quer bereits veröffentlichte Bücher herumlagen. Von diesem großen Zimmer aus gelangte man in einen Flur, von dem wiederum nach der einen Seite drei Privatbüros abgingen (zwei davon beherbergten Ronnies Partner). Auf der anderen Seite befand sich der Eingang zu einem fensterlosen