«Vor was?«
Ingrid fing an zu kichern. Alle schauten auf sie.»Entschuldigung«, flüsterte sie verschämt.
«Vor dem sicheren Tod«, sagte Mackie schlicht.»Fahren wir nach Hause. «Sie erhob sich, sichtlich wiederbelebt durch die Wärme, den großzügig gestreckten Kaffee und, wie mir schien, erleichtert, daß ihr Schwiegervater nicht mit ihrem nörgelnden Ehemann ins gleiche Horn gestoßen hatte.»Und morgen«, fügte sie gedehnt hinzu,»wer fährt denn morgen nach Reading?«
«O Gott«, sagte Fiona.»Das hätte ich beinahe vergessen.«
«Jemand muß hingehen«, sagte Mackie. Es sah so aus, als hätte niemand Lust dazu.
Nach einer kurzen Pause regte sich Harry:»Ich fahre. Ich nehme Bob mit. Fiona braucht nicht mit, Ingrid auch nicht. Mackie…«Er hielt inne.
«Ich komme mit. Das bin ich ihm schuldig.«
Fiona sagte:»Ich auch. Er ist mein Cousin, trotz allem. Er braucht unsere Unterstützung. Obwohl — nach dem, was Harry heute getan hat, weiß ich nicht, ob ich ihm ins Gesicht sehen, kann.«
«Was hat Harry denn getan?«wollte Perkin wissen.
Fiona zuckte die Schultern und machte einen Rückzieher.
«Mackie wird es dir erzählen. «Fiona durfte Harry anscheinend nach eigenem Gutdünken jederzeit angreifen, aber anderen Wölfen warf sie ihn nicht zum Fraß vor. Ohne Zweifel stand ihm noch ein gehöriges Donnerwetter bevor, sobald wir gegangen waren, und tatsächlich beäugte er seine Frau mit einer Mischung aus banger Vorahnung und Schicksalsergebenheit.
«Wir brechen auf«, sagte Tremayne.»Los, Bob.«
«Ja, Sir.«
Bob Watson, ich erinnerte mich, war Tremaynes Futtermeister. Er und seine Ingrid gingen zur Tür, gefolgt von Mackie und Perkin. Ich setzte meine Tasse ab und bedankte mich bei Harry für die Stärkung.
«Kommen Sie morgen um die gleiche Zeit, um Ihre Kleider abzuholen«, sagte er.»Kommen Sie auf einen Drink vorbei; auf einen zünftigen Drink, nicht so einen Erste-Hilfe-Becher.«
«Vielen Dank. Sehr gerne.«
Er nickte mir freundschaftlich zu, Fiona ebenso, und ich packte die Tasche mit meinen trockenen Kleidern sowie den Kamerakoffer und folgte Tremayne und den anderen hinaus in den Schnee. Wir quetschten uns zu sechst in einen großen Volvo, Tremayne hinter dem Steuer, Perkin neben ihm, hinten saßen Mackie und ich und Bob, der Ingrid auf den Schoß nahm. Am anderen Ende des Dorfes hielt Tremayne an, um Bob und Ingrid aussteigen zu lassen. Ingrid versuchte zu lächeln und sagte mir, Bob werde meinen Anzug und die Stiefel am Morgen mitbringen, wenn es mir nichts ausmache. Alles klar, sagte ich.
Sie drehten sich um, gingen durch eine Gartentür auf ein kleines, dunkles Haus zu, und Tremayne fuhr wieder los in Richtung freies Feld. Er grummelte vor sich hin, daß ihm die Gerichtsverhandlung seinen Futtermeister noch einen vollen Tag entreißen würde. Weder Mackie noch Perkin sagten dazu etwas, und ich hatte noch immer keine Ahnung, worum es bei der Verhandlung eigentlich ging. Andererseits kannte ich sie noch nicht gut genug, um einfach danach zu fragen.
«Nicht gerade ein rauschender Empfang, was, John?«sagte Tremayne über seine Schulter.»Haben Sie eine Schreibmaschine mitgebracht?«
«Nein. Aber einen Bleistift. Und einen Kassettenrecorder.«
«Sie werden wissen, was Sie zu tun haben. «Er hörte sich zuversichtlich an, weit mehr von der Angelegenheit überzeugt, als ich selbst es war.»Wir können gleich am Morgen anfangen.«
Nachdem wir eine Zeitlang vorsichtig über Sträßchen von ähnlicher Beschaffenheit gezuckelt waren wie das, das uns soviel Ärger bereitet hatte, fuhr er zwischen zwei imposanten Torpfeilern hindurch und hielt vor einem geradezu riesigen Haus an, durch dessen Vorhänge schwacher Lichtschein nach draußen drang. Da die Bewohner solch großer Häuser äußerst selten die Vordertür benutzten, betraten wir auch dieses hier durch den Seiteneingang. Diesmal gelangten wir nicht direkt in die Küche, sondern in eine warme, mit Teppichen ausgelegte Diele, von der aus Türen in alle Richtungen abgingen.
Tremayne grunzte:»Verflucht kalter Abend«, ging durch eine Tür zu unserer Linken und drehte sich nach mir um.»Kommen Sie doch herein. Fühlen Sie sich wie zu Hause. Das hier ist das Familienzimmer, wo Sie Zeitungen, ein Telefon, etwas zu trinken und all so was finden. Bedienen Sie sich ruhig selbst, solange Sie hier wohnen.«
Der große Raum sah auf eine natürlich gewachsene Art sehr gemütlich aus, nicht übermäßig aufgeräumt oder dekoriert. Alle möglichen Farben und Stilrichtungen präsentierten sich in bunter Mischung, es gab eine Menge Fotografien, ein paar Weihnachtssterne als Überbleibsel von Weihnachten, und in dem großzügig dimensionierten Steinkamin glühte ein Holzfeuer.
Tremayne nahm den Telefonhörer ab und teilte der örtlichen Polizei in knappen Worten mit, daß sein Jeep im Straßengraben lag, keine Angst, niemand verletzt, er werde ihn am nächsten Morgen abholen lassen. Nachdem das erledigt war, stellte er sich ans Feuer und wärmte sich die Hände.
«Perkin und Mackie bewohnen einen eigenen Teil des Hauses, aber hier in diesem Zimmer treffen wir uns immer«, sagte er.
«Wenn Sie eine Nachricht für jemanden hinterlassen wollen, pinnen Sie sie einfach an die Tafel dort drüben. «Er zeigte auf einen Stuhl, auf dem eine Korktafel stand, ähnlich der in Ronnies Büro. Darin steckten wahllos einige rote Nadeln, eine davon steckte in einem Zettel, auf dem in Großbuchstaben eine kurze Botschaft zu lesen stand: ZUM FUTTERN WIEDER DA.
«Das stammt von meinem anderen Sohn«, sagte Tremayne, der die Nachricht aus der Entfernung zur Kenntnis nahm.»Er ist fünfzehn. Kaum zu bändigen. «Aus seinen Worten klang trotz allem Milde und Nachsicht.»Ich denke, Sie haben es schnell heraus, wie der Haushalt hier funktioniert.«
«Ähm… und Mrs. Vickers?«sagte ich zögernd.
«Mackie?«Er schien erstaunt.
«Nein… ich meine Ihre Frau.«
«Oh. Ach so. Nein, nein, meine Frau hat sich aus dem Staub gemacht. Habe ihr nicht viele Tränen nachgeweint. Außer mir wohnt nur noch mein Junge, Gareth, hier. Ich habe noch eine Tochter, mit einem Franzmann verheiratet, wohnen in der Nähe von Paris, mit drei Kindern. Manchmal besuchen sie uns und stellen das ganze Haus auf den Kopf. Sie ist die Älteste, dann Perkin. Gareth kam später.«
Er serviert mir Fakten ohne eine Spur von Gefühl, dachte ich. Das mußte sich ändern, wenn ich mit guten Ergebnissen aufwarten sollte; aber vielleicht war es für Gefühle noch etwas zu früh. Er freute sich, daß ich da war, doch er benahm sich zerfahren, beinahe nervös, beinahe — jetzt, da wir allein waren — schüchtern. Jetzt, wo er seinen Willen durchgesetzt, sich seinen Schriftsteller gesichert hatte, fiel eine Menge der Unruhe und Besorgnis, die er in Ronnies Büro an den Tag gelegt hatte, von ihm ab. Der Tremayne des heutigen Abends stand nicht mehr unter Volldampf.
Als Mackie hereinkam, wurde er wieder der alte. Sie brachte einen Eiskübel, warf ihrem Schwiegervater einen prüfenden Blick zu, als wolle sie sich versichern, daß die Nachsicht, die er bei Harry und Fiona in der Küche hatte walten lassen, noch immer vorherrschte. Prinzipiell zufriedengestellt trug sie den Kübel mit dem Eis zu einem
Tisch hinüber, auf dem eine Reihe Flaschen und Gläser standen, und fing an, einen Drink zu mixen.
Sie hatte inzwischen ihren gefütterten Mantel und die Strickmütze abgelegt und trug ein blaues Jerseykleid über engen, schwarzen, kniehohen Stiefeln. Ihr rotbraunes, kurzgeschnittenes Haar kringelte sich neckisch auf dem wohlgeformten Kopf, doch sie war noch immer blaß, ohne Lippenstift und ohne Lebhaftigkeit.
Sie mixte einen Gin Tonic, reichte ihn Tremayne. Er dankte nickend, als sei er daran gewöhnt.
«Und für Sie, John?«fragte mich Mackie.
«Mir reicht der Kaffee, danke.«
Sie lächelte kaum merklich.»Gut.«
Um die Wahrheit zu sagen: Ich hatte keinen Durst, sondern Hunger. Da es in Tantchens Haus kein Wasser mehr gab, hatte ich an diesem Tag außer dem Kaffee nicht mehr zu mir genommen als ein bißchen Brot mit Marmite und zwei Gläser Milch, und auch die war in der Tüte schon halb gefroren gewesen. Allmählich hoffte ich, daß Gareth’ Rückkehr ZUM FUTTERN nicht mehr lange auf sich warten ließe.