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Sie war mir als >Tantchen< vorgestellt worden, und so nannte ich sie auch; mich schien sie als eine Art entfernten Neffen zu betrachten. Seit zehn Monaten lebten wir in stiller Harmonie nebeneinanderher, ohne uns groß in das Leben des anderen einzumischen.

«Es ist sehr kalt geworden… ist es Ihnen warm genug dort oben?«fragte sie freundlich.

«Ja, danke der Nachfrage«, antwortete ich. Das Elektro-heizgerät verschlang bares Geld, deshalb schaltete ich ihn so gut wie nie ein.

«Diese alten Häuser… da ist es unter dem Dach immer recht frisch.«

«Mir geht’s gut«, entgegnete ich.

«Schön, mein Lieber«, sagte sie freundlich, wir nickten einander zu, und dann ging ich nach oben; wenn ich am Polarkreis überlebt hatte, dachte ich mir, und nicht einmal mit einem kalten Londoner Dachboden fertig würde, dann müßte ich mich schämen. Ich trug langärmelige Unterhemden und lange Unterhosen aus Seidenjersey, darüber Pullover, Jeans und Skianzug, und ich schlief mollig warm in einem polartauglichen Schlafsack. Nur beim Schreiben fing ich an zu frieren.

Oben in meinem Adlerhorst schlug ich mich ein paar Stunden mit der Problematik des Heliumballons herum, bis ich mich schließlich in wilde Spekulationen über Nervenbahnen verstrickte. Warum wurde man vor Angst nicht taub, nur mal angenommen? Weshalb schlägt Angst immer schnurstracks auf den Darm? Mein Held im Ballon wußte es nicht, außerdem ging es ihm so schlecht, daß er sich nicht darum scherte. Wahrscheinlich mußte ich mir eine Bergkette in seiner Flugbahn einfallen lassen, damit er endlich zu Potte kam. Dann mußte er nur noch das Problem lösen, wie er aus annähernd Everest-Höhe, nur mit Fingern, Zehen und seiner Entschlossenheit ausgerüstet, herunterkam. Halb so schlimm. Da hatte ich den einen oder anderen Tip in petto: als erstes hieß es, sich den längsten Weg nach unten aussuchen, denn das war bestimmt der am wenigsten steile. Schroffe Felsen hatten oft wesentlich sanftere Rückseiten.

Meine Dachkammer, einst die Fluchtburg der jüngsten von Tantchens Töchtern, zierte ein verschlissener, rosafarbener Teppich sowie beige Tapeten mit sich ineinander rankenden rosa Röschen. Die dazugehörigen Möbel, ein Bett, eine Kommode, ein kleiner Kleiderschrank, zwei Stühle und ein Tisch verschwanden förmlich unter der Flut von Kisten, Pappschachteln und Koffern, auf die mein gesamter weltlicher Besitz verteilt war: Klamotten, Bücher, Hausrat und Sportausrüstung, alles in Topqualität und bestem Zustand, angeschafft in den verflossenen Zeiten sorglosen Wohlstands. In der Ecke standen zwei Paar sündhaft teure Skier in Schutzüberzüge verpackt. Extravagante Kameras und dazugehörige Objektive schlummerten in ihren Schaumstoffbetten. Ein nur drei Pfund schweres Zelt, das sich innerhalb von Sekunden selbst auf stellte — winddicht, sanddicht und ungezieferdicht — , war jederzeit einsatzbereit. Ab und zu überprüfte ich meine Kletterausrüstung und den Camcorder. Ein Textverarbeiter mit Laserdrucker, den ich noch immer benutzte, blieb die meiste Zeit über unter der Plastikhülle versteckt. In der Schublade lag mein Flugschein für Helikopter, inzwischen automatisch abgelaufen, da ich ein Jahr lang nicht mehr geflogen war. Ein Leben im Schwebezustand, dachte ich. Ein Leben in Warteposition.

Gelegentlich dachte ich daran, daß ich mich besser ernähren könnte, wenn ich etwas von meinen Sachen verkaufte; doch ich würde niemals den Kaufpreis der Skier, um nur ein Beispiel zu nennen, zurückbekommen. Außerdem kam es mir sehr dumm vor, Dinge zu kannibalisieren, die mir einst sehr viel Freude bereitet hatten. Das meiste davon war das Rüstzeug für meinen ehemaligen Beruf. Vielleicht würde ich es noch einmal dringend brauchen. Diese Sachen waren mein Sicherheitsnetz. Die Reisefirma hatte mir angeboten, ich könne jederzeit zurückkommen, sobald diese fixe Idee aus meinem Hirn verschwunden war.

Hätte ich gewußt, was da auf mich zukam, ich hätte womöglich besser geplant und rechtzeitig einiges zur Seite gelegt. Leider hatten zwischen dem ersten unwiderstehlichen Impuls und seiner Umsetzung nicht mehr als sechs Wochen gelegen. Die unbestimmte Absicht hatte mich schon weitaus länger begleitet; beinahe mein ganzes Leben lang.

Heliumballon.

Die zweite Hälfte des Vorabhonorars für Zuhause ist weit war erst am Tage der Veröffentlichung fällig, noch ein gutes Jahr hin. Meine kleinen, wochenweise eingeteilten Geldrationen reichten nicht mehr so lange, und ich sah keine Möglichkeit, mit noch weniger auszukommen. Die Miete, die ich im voraus gezahlt hatte, war erst Ende Juni wieder fällig. Gesetzt den Fall, dachte ich, gesetzt den Fall, ich bin bis dorthin mit dem Ballonwitz fertig und gesetzt den Fall, er wird angenommen und sie zahlen den gleichen Vorschuß wie beim erstenmal, dann könnte es gelingen, die vollen zwei Jahre durchzuhalten. Gesetzt den Fall, das Buch geht unter wie eine bleierne Ente, dann würde ich aufgeben und zu den harmlosen Gefahren der Wildnis zurückkehren.

In dieser Nacht fielen die Temperaturen in London vollends in den Keller, und am Morgen war Tantchens Haus Stein und Bein gefroren.

«Wir haben kein Wasser«, rief sie mir bekümmert entgegen, als ich die Treppe hinunterkam.»Die Zentralheizung ist ausgefallen, und alle Leitungen sind eingefroren. Ich habe den Klempner schon angerufen. Er hat gesagt, wir sitzen alle im gleichen Boot, und wir sollen alles ausschalten. Bevor es taut, kann er überhaupt nichts ausrichten, dann kommt er vorbei und repariert die Lecks. «Sie schaute mich hilflos an.»Es tut mir wirklich leid, mein Lieber, aber ich werde in ein Hotel umsiedeln, bis das alles hier vorbei ist. Ich muß das Haus zusperren. Haben Sie die Möglichkeit, irgendwo anders für ein oder zwei Wochen unterzukommen? Natürlich rechne ich die Zeit auf Ihre sechs Monate drauf, Sie werden dabei nichts verlieren, mein Lieber.«

Bestürzung ist ein viel zu gelinder Ausdruck für das, was ich empfand. Ich half ihr beim Zudrehen sämtlicher Hähne und vergewisserte mich, daß sie ihre Wasserboiler ausgeschaltet hatte; im Gegenzug durfte ich ihr Telefon benutzen, um für mich ein anderes Dach über dem Kopf aufzutreiben.

Ich erreichte ihren Neffen, der noch immer bei der Reisefirma arbeitete.

«Hast du noch mehr Tanten?«fragte ich drängend.

«Herr im Himmel, was hast du denn mit der einen angestellt?«

Ich erklärte ihm die Sachlage.»Leihst du mir einen Meter achtzig Fußboden, wo ich mein Bettzeug ausrollen kann?«»Weshalb erfreust du nicht deine Eltern mit deiner Anwesenheit, dort auf dieser karibischen Insel?«

«Eine winzige Kleinigkeit: die Flugkosten.«

«Du kannst für ein, zwei Nächte kommen, wenn du sonst nichts findest«, sagte er dann.»Wanda ist bei mir eingezogen, und du weißt ja, wie winzig die Bude ist.«

Zu allem Elend konnte ich Wanda nicht besonders leiden. Ich bedankte mich und sagte, ich würde mich wieder melden, dabei zerbrach ich mir bereits den Kopf, wo ich sonst noch hinkonnte.

Es war geradezu unvermeidlich, daß mir Tremayne Vik-kers in den Sinn kam.

Ich rief Ronnie Curzon an und schenkte ihm gleich reinen Wein ein.»Kannst du mich mit diesem Pferdetrainer verbinden?«

«Was?«

«Er hat mir freie Unterkunft und Verpflegung angeboten.«

«Erklär’s mir mal eins nach dem anderen.«

Ich erklärte es Schritt für Schritt, und er war strikt dagegen.

«Du arbeitest besser an deinem neuen Buch weiter.«

«Mmh«, sagte ich.»Je höher ein Heliumballon steigt, um so dünner wird die Luft und um so niedriger der Druck, Der Heliumballon dehnt sich aus, steigt immer höher und höher, bis er platzt.«

«Was«

«Es ist viel zu kalt, um sich Geschichten auszudenken. Meinst du, ich kann das leisten, was Tremayne haben will?«