Harry antwortete nicht. Die Stimmung wurde, falls das möglich war, noch schlechter, und ich kam mir vor, als wäre ich mitten in einen Film geplatzt, bei dem ich einfach nicht mehr in die Handlung hineinkam.
Ohne sich einzumischen, bog Mackie von der Great Western Road auf die Autobahn M 4 ein, wo es dann in westlicher Richtung besser voranging, vorbei an einem unbeleuchteten Streifen zwischen schneebedeckten, bewaldeten Hügeln; Eiskristalle glitzerten im Scheinwerferlicht.
«Bob sagt, daß Lewis betrunken war. «Fiona ließ nicht locker.»Er muß es wissen, schließlich hat er die Drinks serviert.«
«Dann werden ihm die Geschworenen bestimmt glauben.«
«Sie glaubten ihm bereits — bis du dich hingestellt und alles vermasselt hast.«
«Dich hätten sie in den Zeugenstand rufen sollen«, verteidigte sich Harry,»du hättest geschworen, daß er im Koma lag und hinausgetragen werden mußte, auch wenn du nicht mal dort warst.«
«Er lag nicht im Koma«, sagte Bob Watson.
«Halt du dich raus, Bob«, blaffte Harry.
«Oh, Verzeihung«, preßte Bob Watson kaum vernehmbar zwischen den Zähnen hervor.
«Du hättest nur zu bezeugen brauchen, daß Lewis betrunken war. «Fionas Stimme bebte vor Wut.»Mehr wollte die Verteidigung nicht von dir. Und du sagst es nicht! Nolans Anwalt hätte dich am liebsten umgebracht.«
«Dich wollte ich mal die Fragen des Staatsanwalts beantworten sehen. «Harry klang genervt.»Hast du nicht gehört, was er gesagt hat? Wie konnte ich wissen, ob Lewis betrunken war? Hatte ich etwa eine Blutprobe, eine
Urinprobe vorgenommen, hatte ich ihn pusten lassen? Worauf basierte mein Urteil? Konnte ich irgendwelche medizinischen Kenntnisse vorweisen? Du hast ihn doch gehört. Immer und immer wieder. Wieviel Gläser hatte ich ihn trinken sehen? Woher wußte ich denn, was in den Gläsern war? War mir bekannt, daß Lewis bei ähnlichen Gelegenheiten Blackouts hatte?«
«Dieser Frage wurde nicht stattgegeben«, sagte Mackie.
«Du hast dich von diesem Staatsanwalt aufs Glatteis führen lassen. Du hast dich völlig blöde angestellt…«Fiona wollte sich nicht beruhigen.
Allmählich tat mir Harry ein bißchen leid.
Wir erreichten die Ausfahrt Chieveley und fuhren nach Norden ab, auf der breiten A 34, Richtung Oxford. Mackie hatte sich klugerweise für die geräumten Hauptstraßen entschieden, anstatt über die Hügel zu fahren, auch wenn es laut Karte der kürzere Weg gewesen wäre. Ich hatte mich vorab informiert, wo Tremaynes Dorf lag, getreu der Theorie, daß der schlaue Mann sein Ziel immer kennt, insbesondere dann, wenn es irgendwo in den Berkshire Downs, weitab jeglicher Zivilisation zu suchen ist.
Ab dem Zeitpunkt, an dem sich Shellerton auf einem Ortsschild ankündigte, hielt Fiona ihre Zunge gnädigerweise im Zaum. Mackie bremste sachte ab, setzte den Blinker und bog vorsichtig von der Hauptstraße in ein sehr schmales Sträßchen ein, nicht viel breiter als ein Feldweg. Dort hatte man den Schnee notdürftig zur Seite geschoben, trotzdem war die Fahrbahn noch immer von gefrorenen Flecken überzogen. Die Reifen rollten knirschend über die zerspringenden Eisplatten. Sofort legte sich ein feiner Schleier auf die Innenseite der Windschutzscheibe; Mackie versuchte, ihn ungeduldig mit dem Handschuh wegzureiben.
An dem Sträßchen standen keine Häuser. Wie ich später erfuhr, ging es von der Hauptstraße bis zum Dorf an die zwei Kilometer quer durch unbesiedeltes Land. Autos schienen ebenfalls nicht unterwegs zu sein. Jeder, der nicht unbedingt das Haus verlassen mußte, blieb bei dieser Kälte im Warmen. Trotz Mackies Vorsicht spürte man ab und zu, wie die Räder wegrutschten, einige unsichere Sekunden lang die Haftung verloren. Der Motor jaulte angestrengt im zweiten Gang eine sanfte Steigung hinauf.
«Jetzt ist es noch schlimmer als heute morgen«, sagte Mackie besorgt.»Die Straße ist die reinste Eisbahn.«
Niemand antwortete. Ich hoffte inständig — und alle anderen vermutlich mit mir — , daß wir, ohne rückwärts wieder hinabzurutschen, auf den Hügel gelangen würden. Wir schafften es, doch oben angekommen, wurde klar, daß es mindestens genauso gefährlich war, auf der anderen Seite hinabzufahren. Mackie wischte die Windschutzscheibe frei und fuhr besonders vorsichtig rechts um die Kurve.
Mitten auf der Straße stand unbeweglich im Scheinwerferlicht ein Pferd. Ein dunkles Pferd mit übergeworfener dunkler Decke, den Kopf erschreckt in die Luft gereckt. Ein schimmernder Glanz bedeckte sein Fell, die weit aufgerissenen Augen glitzerten. Der Augenblick erstarrte wie die Landschaft ringsumher.
«Verflixt!« entfuhr es Mackie, als sie auf das Bremspedal stieg.
Das Auto schlitterte unerbittlich über das Eis, und obwohl Mackie die Bremse sofort wieder losließ, hatte das so gut wie keine Wirkung.
Das Pferd, von panischem Schrecken ergriffen, versuchte, von der Straße runter ins angrenzende Feld zu fliehen. Mackie, die einerseits versuchte, ihm auszuweichen, andererseits gegen das Rutschen ankämpfte, unterschätzte die
Kurve, die Wölbung der Straße und unsere Geschwindigkeit, obwohl man fairerweise zugeben muß, daß es eines Stuntfahrers bedurft hätte, um unbeschadet aus dieser Situation herauszukommen.
Der Jeep rutschte auf den Straßenrand zu, die Räder drehten auf der schneebedeckten Grasnarbe durch, dann war er darüber hinweg, schlitterte noch einmal, schien sich dann auf eigene Faust querfeldein auf den Weg machen zu wollen, bevor er seitlich in einen vorher unsichtbaren Entwässerungsgraben kippte und mit einem Krachen wie Pistolenschüsse durch die dicke Eisdecke brach.
Zum Glück waren wir langsam genug gefahren, so daß der Sturz nicht gleich tödlich ausging, trotzdem tat es einen ordentlichen Schlag, bei dem einem die Zähne aufeinander schlugen. Die Räder auf der linken Seite, vorne und hinten, kamen einen guten Meter unter dem Niveau der Straße zur Ruhe; die gegenüberliegende Grabenböschung stützte das Wagendach ab, so daß der Jeep nicht ganz auf der Seite lag. Ich öffnete meine Tür, die in Richtung Himmel zeigte, und hatte mich aus dem Wagen befreit, noch bevor der Motor richtig zum Stillstand gekommen war.
Der Heidewind, der hier unaufhörlich blies, biß mir eine frostige Warnung ins Gesicht. Kalter Wind war ein unnachgiebiger Feind und konnte für einen Arglosen sogar den Tod bedeuten.
Bob Watson war auf seine Frau gefallen. Ich streckte die Arme ins Wageninnere, packte ihn und versuchte, ihn herauszuziehen.
Er wollte sich aus meinem Griff befreien, rief mit angsterfüllter Stimme:»Ingrid «und gleich darauf entsetzt:»Es ist naß… sie liegt im Wasser!«
«Kommen Sie raus«, sagte ich entschieden.»Wir ziehen Ihre Frau anschließend gemeinsam heraus. Na los, Sie zerquetschen sie ja. So kriegen wir sie niemals aus dem Wagen.«
Ein Rest Vernunft bewegte ihn dazu, sich von mir so weit herausziehen zu lassen, daß er wieder nach hinten, nach seiner Frau greifen konnte. Ich zog ihn, und er zog sie, und gemeinsam schafften wir es, sie auf die Straße zu bugsieren.
Unter der Eisschicht war der Graben beinahe bis obenhin voll mit schmutzigbraunem Wasser. Sogar nachdem wir Ingrid herausgehoben hatten, stieg das Wasser im Wageninneren sehr schnell, und auf dem Vordersitz brüllte Fiona nach Harry, der sie befreien sollte, doch Harry lag, wie ich zu meinem Entsetzen sah, unter ihr begraben und lief Gefahr zu ertrinken.
Der eine Scheinwerfer, der bis jetzt gebrannt hatte, ging plötzlich aus.
Mackie hatte noch keinerlei Anstalten gemacht, sich in Sicherheit zu bringen. Ich riß ihre Tür auf und fand sie halb bewußtlos und verwirrt in den Sitzgurten hängend.
«Holen Sie uns raus«, gellte Fiona.
Unter ihr versuchte Harry, aus dem Wasser herauszukommen. Seine heftigen Bewegungen ließen nicht erkennen, ob er seine Frau oder sich selbst zu befreien versuchte. Ich langte um Mackie herum, fand den Verschluß des Gurtes, machte ihn auf, hob sie aus dem Wagen und legte sie Bob Watson in die Arme.