Ich stellte mir vor, wie Perkin in der Nacht den Pfad entlangschlängelte. Mit Hilfe der Markierungen konnte er den Weg ebenso leicht finden wie schon zuvor bei Tageslicht. Insgeheim war er mit sich zufrieden, konnte er doch alle Spuren, die er unvermeidlicherweise beim ersten Mal hinterlassen hatte, jetzt durch seine zweite Passage ohne weiteres erklären. Diese Befriedigung hatte sich höchstwahrscheinlich in Luft aufgelöst, als er auf der Lichtung ankam und mich dort nicht mehr vorfand. Eine böse Überraschung, sozusagen. Er hatte wohl vorgehabt, zu seinen
Anverwandten zurückzukehren, um voller Entsetzen zu berichten, daß er mich tot aufgefunden habe. Statt dessen sah er schockiert und voller Entsetzen, daß ich noch am Leben war. Mit offenem Mund. Sprachlos. Wie unangenehm.
Wenn ich versucht hätte, die Straße auf dem Pfad zu erreichen, wäre ich Perkin direkt in die Arme gelaufen.
Ein Schauer lief mir in dem warmen Krankenhauszimmer über den Körper. Manche Dinge malte man sich besser nicht aus.
Für Perkin war es eine Leichtigkeit, Pfeile herzustellen, nicht schwieriger, als sich die Fingernägel zu schneiden. Außerdem hatte er direkt in seiner Werkstatt einen Ofen, um sie zu härten. Er mußte auch einen recht guten, starken Bogen gebaut haben (nach meinen detaillierten Anweisungen), der mittlerweile zweifellos in tausend unkenntliche Splitter zerbrochen irgendwo im weit entfernten Unterholz lag. Vielleicht hatte er sogar vor meiner Ankunft ein paar Übungsschüsse gewagt. Das ließ sich nur herausfinden, wenn ich noch einmal dorthin zurückging und nach den verschossenen Pfeilen suchte — was ich allerdings nicht vorhatte.
Den Rest des Tages über kamen mir alle möglichen Gedanken mehr oder minder deutlich in den Sinn.
Beispielsweise der, daß Perkin in Holz dachte, wie in einer Sprache. Jede Falle, die er baute, mußte aus Holz gefertigt sein.
Nolan hatte Perkin bei Tremaynes Festessen niedergeschlagen. Ich hatte Nolan durch die Luft gewirbelt und ihn der Lächerlichkeit preisgegeben. Perkin hätte es niemals riskiert, mich direkt anzugreifen, nicht nach dem, was er gesehen hatte.
Perkin mußte den Schock angesichts meiner ihm vertrauten Schuhe und des Anoraks im Bootshaus überwinden und dann den weit schlimmeren Schock, als sich sein Plan auf verheerende Weise ins Gegenteil verkehrte, indem Harry und ich lebendig wieder auftauchten.
Als bester Schauspieler von allen hatte er sich diese Rückschläge nicht anmerken lassen, er hatte es ohne Revolte, ohne Nervenkrise hingenommen. So mancher verurteilte Mörder stellt eine derartige Kaltblütigkeit zur Schau. Vielleicht hatte es etwas mit seiner Realitätsferne zu tun. Zu diesem Thema gab es dicke Bücher. Wer weiß, eines Tages würde ich sie womöglich lesen.
Perkin hatte Mackies freundschaftliche Gefühle mir gegenüber verabscheut. Nicht ausreichend genug, um mich dafür umzubringen, aber sicherlich so, daß mein Tod auch in dieser Hinsicht sehr gelegen kam.
Niemals etwas vermuten…
Man hatte Perkin immer in seiner Werkstatt bei der Arbeit vermutet, dabei mochte er Stunden oder gar Tage woanders zugebracht haben, immer wenn Mackie sich außer Haus um die Pferde kümmern mußte. An dem Mittwoch, an dem die Falle für Harry installiert worden war, hatte Mackie in Ascot Tremaynes Pferd für das Dreimeilenrennen gesattelt.
Perkin hatte keinen klassischen Fehler begangen. Er hatte keine Taschentücher mit seinem Monogramm herumliegen lassen, hatte weder Alibis getürkt noch aus Unachtsamkeit datierte Zugfahrscheine weggeworfen, und er hatte nicht mit Wissen geprotzt, über das er gar nicht verfügen durfte. Perkin hatte mehr zugehört als geredet. Er war gewitzt und vorsichtig vorgegangen.
Ich dachte an Angela Brickell und an die Nachmittage, die Perkin allein zu Hause verbracht hatte. Sie hatte sogar Gareth verführen wollen. Man konnte sich leicht vorstellen, daß sie ihre Reize auch vor Perkin zur Schau gestellt hatte. Intelligente Männer, die ihre Frauen lieben, sind nicht immun gegen offen angebotene Verlockungen. Plötzliche Erregung. Schnelle unkomplizierte Befriedigung. Ende der Geschichte.
Es sei denn, aus der Geschichte ginge nach dem Versagen eines Verhütungsmittels eine Schwangerschaft hervor. Die Geschichte war nicht zu Ende, wenn das Mädchen Geld verlangte oder mit der Preisgabe ihres Geheimnisses drohte. Sie war nicht zu Ende, wenn sie die Ehe des Mannes zerstören konnte — und es auch tun würde.
Angenommen, Angela Brickell war eindeutig schwanger gewesen. Angenommen, sie wußte genau, wer der Vater war. Sie, die in einem Stall mit Zuchtpferden arbeitete, wußte nur zu gut, daß es Verfahren gab, die den Nachweis der Vaterschaft zunehmend genau erlaubten. Der Vater würde es nicht einfach abstreiten können. Angenommen, sie lockte ihn in den Wald, wurde dort in jeder Beziehung fordernd und emotional, fing an, Druck auf ihn auszuüben.
Nicht lange vorher hatte Perkin Olympia tot zu Nolans Füßen liegen sehen. Wieder und wieder hatte er gehört, wie schnell sie gestorben war. Angenommen, dieses Bild, diese Gewißheit wäre vor seinem inneren Auge aufgeflammt. Die rasche Lösung all seiner Probleme lag in seinen eigenen starken Händen.
Ich stellte mir vor, wie sich Perkin gefühlt haben mochte, was er da auf sich zukommen sah.
Zu dieser Zeit war es Mackie nicht möglich, ein Kind zu empfangen, und sie litt sehr darunter. Angela Brickell hingegen trug verheerenderweise ein Kind von ihm in ihrem Leib. Perkin liebte Mackie und konnte es nicht ertragen, daß sie erfuhr, was er getan hatte; konnte nicht ertragen, daß er sie so furchtbar verletzen würde. Vielleicht schämte er sich. Und wollte nicht, daß sein Vater davon Wind bekam.
Die unwiderstehliche Lösungsstrategie: ein schneller Tod auch für Angela. Einfache Sache.
Vielleicht hatte aber auch er, nicht sie, den Wald ausgewählt. Vielleicht hatte er es geplant, vielleicht war es keine Affekthandlung, sondern seine erste Falle gewesen.
Jetzt aber konnte man unmöglich entscheiden, welches dieser Szenarien der Wahrheit entsprach. Möglich, vermutlich, wahrscheinlich; eine kleine Auswahl, mehr nicht.
Ich fragte mich, ob er auf dem Weg nach Hause etwas anderes als Erleichterung verspürt hatte.
Schon lange, bevor Doone an die Tür klopfte, konnte sich Perkin überlegt haben, daß er, sollte man die Leiche jemals finden, einfach behaupten würde, sich nicht an das Mädchen zu erinnern. Niemandem wäre das seltsam vorgekommen, da er sich nur sehr selten bei den Pferden sehen ließ.
Sein einziger, katastrophaler Fehler hatte darin gelegen, das Geheimnis ein für allemal begraben zu wollen, indem er Harry verschwinden ließ.
An seinen Taten sollt ihr ihn erkennen…
An seinen Pfeilen.
Ich überlegte mir, daß Doone wohl nicht daran dachte, in Perkins Werkstatt nach dem passenden Holz für die Pfeile suchen zu lassen. Perkin hatte nicht genügend Zeit gehabt, sich anderswo nach etwas Brauchbarem umzusehen. Er mußte gewöhnliches Holz benutzt haben, nichts Exotisches; trotzdem mußte noch mehr davon aufzufinden sein, vielleicht sogar in der Kommode, die er aus gebleichter Eiche anfertigte.
Er hatte keine passenden Federn zur Hand gehabt, deshalb auch keine Schaftführungen.
Perkin mußte gewußt haben, daß ein Holzvergleich anstand. Er kannte sich mit Holz besser aus als alle anderen.
Doone mit seinem Versprechen, alles aufzuklären, sobald ich aufgewacht war, mußte das Ende seiner Hoffnungen bedeutet haben.
Er liebte Mackie wirklich. Seine Welt brach zusammen. Es blieb nur ein Ausweg.
Ich dachte an Tremayne und wie stolz er auf Perkins Arbeit war, dachte an Gareth’ verwundbares Alter. Ich dachte an Mackie, an ihr Gesicht, das vor wundersamer Freude gestrahlt hatte, als sie entdeckte, daß sie schwanger war. Ich dachte an das Kind, wie es in Liebe und Geborgenheit aufwuchs.