Nichts war damit gewonnen, wenn jemand herausfand, was Perkin getan hatte. Viel würde jedoch kaputtgemacht. Sie würden alle sehr darunter leiden. Die Familien hatten immer am meisten darunter zu leiden.
Kein Kind, dessen Vater ein bekannter Mörder war, konnte zu einem selbstbewußten und ausgeglichenen Erwachsenen heranwachsen. Ohne dieses furchtbare Wissen würde Mackies Schmerz mit der Zeit verheilen. Tremayne und Gareth müßten sich nicht unter der unverdienten Schande winden. Sie alle würden weitaus glücklicher leben, wenn sie und der Rest der Welt in Unkenntnis blieben, und um dieses Ziel zu erlangen, wollte ich ihnen das einzige Geschenk machen, das ich zu geben vermochte: mein Schweigen.
Der Untersuchungsrichter befand bei der kurzen gerichtlichen Leichenschau in der folgenden Woche ohne zu zögern auf >Unfall< und bekundete den Anverwandten sein
Mitgefühl. Tremayne holte mich danach vom Krankenhaus ab und berichtete mir auf dem Weg nach Shellerton, daß Mackie die Feuerprobe vor Gericht tapfer hinter sich gebracht habe.
«Und das Baby?«erkundigte ich mich.
«Dem Baby geht’s blendend. Es gibt Mackie die nötige Kraft. Sie sagt, Perkin ist bei ihr und wird durch das Baby immer bei ihr sein.«
«Hm.«
Tremayne schaute mich kurz von der Seite an und blickte dann wieder auf die Straße.
«Hat Doone inzwischen herausgefunden, wer Ihnen den Pfeil verpaßt hat?«
«Ich glaube nicht.«
«Wissen Sie es selbst auch nicht?«
«Nein.«
Er fuhr eine Zeitlang schweigsam weiter.
«Ich dachte nur…«:, sagte er unsicher.
Nach einer Weile sagte ich:»Doone hat mich zweimal besucht. Ich sagte ihm, daß ich nicht weiß, wer auf mich geschossen hat. Ich sagte ihm, ich hätte überhaupt keine Vorstellungen mehr von irgend etwas.«
Jedenfalls hatte ich ihm nicht verraten, wo er nach dem Holz für die Pfeile zu suchen hatte.
Doone war abgrundtief von mir enttäuscht: Ich hätte gemeinsame Sache mit ihnen gemacht, sagte er. Goodhaven, Everard, Vickers und Kendall.»Ja«, hatte ich gesagt,»tut mir leid.«
Doone sagte, man könne nicht beweisen, wer Angela Brickell umgebracht habe.»Lassen Sie sie ruhen«, hatte ich gesagt. Nach einer Weile hatte er sich, grau wie er war, erhoben und mir geraten, auf mich aufzupassen. Ich hatte etwas gezwungen geantwortet:»Das werde ich tun. «Daraufhin war er langsam und mit Bedauern hinausgegangen, und er hatte auch meinen bedauernden Gesichtsausdruck bemerkt, ein unerwartetes gegenseitiges Sympathiebekenntnis, das sich im gleichen Moment bereits in die Erinnerung verflüchtigt hatte.
«Glauben Sie nicht«, sagte Tremayne schmerzlich,»ich meine, es muß doch jemand gewesen sein, der wußte, daß Sie Gareths Kamera holen würden.«
«Ich habe Doone erzählt, es war ein Kind, das Robin Hood spielte.«
«Ich… aber… ich.«
«Hören Sie auf damit«, sagte ich.»Ein Kind hat es getan.«
«John.«
Er wußte es, dachte ich. Er war kein Idiot. Er konnte sich den Vorgang ebensogut wie ich an zehn Fingern abzählen, und es mußte verdammt schmerzhaft für ihn gewesen sein, das alles von seinem Sohn glauben zu müssen.
«Was mein Buch betrifft«, sagte er zögerlich,»ich weiß nicht, ob ich damit weitermachen möchte.«
«Ich werde es schreiben«, bestärkte ich ihn.»Es wird eine Bestätigung Ihres Lebens und Ihres Schaffens, wie es geplant war. Es ist jetzt sogar noch wichtiger; für Sie besonders, aber auch für Gareth, für Mackie und für Ihr neues Enkelkind. Für Sie und für Ihre Familie ist es sehr wichtig, daß ich das Buch zu Ende bringe.«
«Sie wissen es«, sagte er.
«Es war ein Kind.«
Fiona und Harry saßen mit Mackie und Gareth im Familienzimmer zusammen. Perkins Abwesenheit traf mich beinahe wie ein Schlag, so sehr hatte ich mich an seine Anwesenheit gewöhnt. Mackie sah blaß aus, hatte sich aber im Griff. Sie begrüßte mich mit einem schwesterlichen Kuß.
«Hallo«, sagte Gareth, sehr cool.
«Selber Hallo.«
«Ich habe schulfrei gekriegt.«
«Prima.«
Harry sagte:»Wie geht es Ihnen?«Und Fiona nahm mich vorsichtig in die Arme und ließ ihren Duft meine Sinne betäuben. Mit ironisch blitzenden Augen bestellte Harry beste Grüße von seiner Tante Erica.
Ich fragte Harry, wie es seinem Bein ginge. Alles sehr oberflächlich und höflich.
Mackie brachte für jeden eine Tasse Tee; ein höchst englischer Trauerbalsam. Ich erinnerte mich daran, wie Harry nach unserem Sturz in den Graben den Kaffee verfeinert hatte, und hätte dieser Methode jederzeit den Vorzug gegeben.
Gestern war es einen Monat her, seit ich hier angekommen bin, fiel mir ein. Ein Monat auf dem Lande…
«Hat man herausgefunden, wer auf Sie geschossen hat?«fragte Harry.
Seine Frage war eine einfache Nachfrage, ohne Hintergedanken, nicht so wie bei Tremayne. Ich gab ihm eine einfache Antwort, die Antwort, die allmählich als offizielle Erklärung anerkannt wurde.
«Doone vermutet, daß es ein Kind gewesen ist, das sich einen Traum erfüllt hat«, sagte ich.»Robin Hood, Cowboys und Indianer. So was in der Richtung. Das wird man nie genau herausfinden.«
«Wie furchtbar«, erinnerte sich Mackie.
Ich schaute sie zärtlich an. Tremayne klopfte mir auf die Schulter und verkündete, daß ich weiterhin hierbleiben würde, um, wie abgesprochen, sein Buch fertigzustellen.
Sie freuten sich offensichtlich alle sehr darüber, als gehörte ich dazu; doch ich wußte, daß ich sie noch vor dem Sommer verlassen würde. Ich würde dem hellerleuchteten Bühnenbild den Rücken kehren und wieder in die Düsternis und die Einsamkeit meiner Schriftstellerei eintauchen. Es war ein Bedürfnis, nach dem ich mich verzehrte, und selbst wenn ich nie mehr hungern sollte, so würde ich es doch immer in mir spüren. Ich konnte dieses Bedürfnis nicht verstehen oder gar analysieren, aber es war da.
Nach einer Weile verließ ich das Familienzimmer und wanderte durch die große Haupthalle zur anderen Hälfte des Hauses und ging dort in Perkins Werkstatt.
Es roch aromatisch nach Holz, nur nach Holz. Die Werkzeuge lagen wie gewöhnlich akkurat nebeneinander. Der Leimtopf auf dem Ofen war erkaltet. Alles war aufgeräumt und saubergewischt, und nirgendwo auf dem gewienerten Boden zeigten verräterische Flecken an, wo er sein Leben verströmt hatte.
Ich verspürte ihm gegenüber keinen Haß. Statt dessen dachte ich daran, daß sein vielversprechendes Talent nun ausgelöscht war. Was geschehen ist, ist geschehen, würde Tremayne sagen, aber dieses umfassende Gefühl sinnloser Vergeudung konnte ich nicht so einfach abschütteln.
Auf der Werkbank lag ein Exemplar von Überleben in der Wildnis. Ich nahm es widerwillig in die Hand und blätterte darin herum.
Fallen. Pfeil und Bogen. Die vertrauten Geschichten. Ich schlug die Seiten resigniert um, und sie öffneten sich wie von selbst bei dem Diagramm in dem Kapitel über Erste Hilfe, an der Stelle, wo die Druckpunkte aufgezeichnet waren, an denen man bei Verletzungen die Arterienblutungen abdrücken konnte. Ich starrte ausdruckslos auf die anschaulich gezeichneten Illustrationen, auf denen genau zu sehen war, wo die Hauptschlagadern zu finden waren, an welchen Stellen sie der Hautoberfläche der Arme und Handgelenke am nächsten waren. und an welchen Stellen der Beine.
Großer Gott, dachte ich wie betäubt. Auch das habe ich ihm beigebracht.