Das zweite Symptom dafür, daß unsere Träume tot sind, sind unsere Gewißheiten. Weil wir das Leben nicht als ein großes Abenteuer sehen, das es zu leben gilt, glauben wir am Ende, daß wir uns in dem wenigen, was wir vom Leben erbeten haben, weise, gerecht und korrekt verhalten. Wir lugen nur über die Mauern unseres Alltags und hören das Geräusch der zerbrechenden Lanzen, riechen den Geruch von Schweiß und Pulver, sehen, wie die Krieger stürzen, blicken in ihre eroberungshungrigen Augen. Doch die Freude, die unendliche Freude im Herzen dessen, der diesen Kampf kämpft, weil für ihn weder der Sieg noch die Niederlage zählt, nur der Kampf an sich, die bleibt uns fremd.
Das dritte Symptom für den Tod unserer Träume ist schließlich der Friede. Das Leben wird zu einem einzigen Sonntagnachmittag, verlangt nichts Großes von uns, will nie mehr von uns, als wir zu geben bereit sind. Wir halten uns dann für reif, glauben, daß wir unsere kindischen Phantasien überwunden und die Erfüllung auf persönlicher und beruflicher Ebene erlangt haben. Wir reagieren überrascht, wenn jemand in unserem Alter sagt, daß er noch dies oder das vom Leben erwartet. Aber in Wahrheit, ganz tief im Inneren unseres Herzens, wissen wir, daß wir es in Wirklichkeit nur aufgegeben haben, um unsere Träume zu kämpfen, den guten Kampf zu führen.«
Der Kirchturm veränderte sich ständig, und an seiner Stelle erschien nun ein Engel mit ausgebreiteten Flügeln. Doch soviel ich auch blinzelte, die Gestalt verschwand nicht wieder. Ich wollte mit Petrus sprechen, doch ich spürte, daß er noch nicht geendet hatte.
«Wenn wir auf unsere Träume verzichten und den Frieden finden«, sagte er nach einer Weile,»erleben wir eine kurze Zeit der Ruhe. Doch die toten Träume beginnen in uns zu verwesen, und sie verseuchen, was uns umgibt. Wir beginnen grausam zu den Menschen um uns herum zu werden, und am Ende richten wir diese Grausamkeit gegen uns selber. Dann tauchen Krankheiten und Psychosen auf. Was wir im Kampf vermeiden wollten — die Enttäuschung und die Niederlage — , wird zum einzigen Vermächtnis unserer Feigheit. Und eines schönen Tages haben die toten und verwesten Träume die Luft so verpestet, daß wir nicht mehr atmen können und nur noch den Tod ersehnen, den Tod, der uns von unseren Gewißheiten, unseren Sorgen und von diesem fürchterlichen Sonntagnachmittagsfrieden erlöst.«
Jetzt war ich mir sicher, daß ich wirklich einen Engel sah, und konnte den Worten von Petrus nicht mehr folgen. Er mußte dies gemerkt haben, denn er nahm den Finger von meinem Nacken und hörte auf zu sprechen. Das Bild des Engels blieb noch für einige Augenblicke und verschwand dann. An seiner Stelle erschien wieder der Kirchturm.
Wir schwiegen einige Minuten lang. Petrus rollte sich eine Zigarette und begann zu rauchen. Ich zog die Flasche aus dem Rucksack und trank einen Schluck Wein. Er war zwar warm, doch er schmeckte gut.
«Was hast du gesehen?«fragte er mich.
Ich erzählte ihm vom Engel. Sagte, daß anfangs die Erscheinung verschwand, wenn ich blinzelte.
«Auch du mußt lernen, den guten Kampf zu kämpfen. Du hast bereits gelernt, das Abenteuer und die Herausforderungen des Lebens anzunehmen, doch das Außergewöhnliche willst du noch immer verneinen.«
Petrus zog einen kleinen Gegenstand aus dem Rucksack und gab ihn mir. Es war eine goldene Nadel.
«Dies war ein Geschenk meines Großvaters. In der R.A.M.-
Bruderschaft besaßen alle Alten einen solchen Gegenstand. Er heißt >Die Nadel des Schmerzes<. Als dir der Engel auf dem Kirchturm erschien, wolltest du ihn leugnen. Weil es sich um etwas handelte, das du nicht gewohnt warst. In deiner Sicht der Welt sind Kirchen Kirchen, und Visionen können nur in von den Ritualen der >Tradition< hervorgerufenen Ekstasen vorkommen.«
Ich entgegnete, daß meine Vision das Ergebnis des Drucks gewesen sein müsse, den er auf meinen Nacken ausgeübt hatte.
«Da hast du ganz recht, aber das ändert nichts. Tatsache ist, daß du die Erscheinung abgewiesen hast. Felicia von Aquitanien muß etwas Ähnliches gesehen haben und hat ihr ganzes Leben auf das gesetzt, was sie gesehen hat: Das Ergebnis war, daß sie ihr Werk in Liebe verwandelt hat. Das gleiche muß mit ihrem Bruder geschehen sein. Was mit dir geschehen ist, das geschieht jeden Tag mit allen Menschen: Wir sehen immer den besseren Weg, doch beschreiten nur den, den wir gewohnt sind. «Petrus nahm die Wanderung wieder auf, und ich folgte ihm. Die Sonnenstrahlen ließen die Nadel in meiner Hand aufblitzen.
«Wir werden unsere Träume nur dann retten können, wenn wir zu uns selber großzügig sind. Jede Art von Selbstbestrafung, so subtil sie auch sein mag, muß streng geahndet werden. Um zu wissen, ob wir uns selber seelische Schmerzen zufügen, müssen wir jede Versuchung dazu, wie zum Beispiel Schuldgefühle, Gewissensbisse, Unentschlossenheit und Feigheit, in physischen Schmerz umwandeln. Indem wir einen seelischen Schmerz in physischen Schmerz verwandeln, erfahren wir, welchen Schaden er uns zufügen kann.«
Und Petrus lehrte mich das Exerzitium des Schmerzes.
«Früher benutzten sie eine goldene Nadel dazu«, sagte er.
«Heute haben sich die Dinge verändert wie mittlerweile die Landschaft auf der Jakobsstraße.«
Petrus hatte recht. Von unten gesehen hatte die Ebene vor mir wie eine Hügelkette gewirkt.
«Denk an irgend etwas Schmerzliches, das du dir heute selber zugefügt hast. Und mach die Übung.«
Ich konnte mich an gar nichts erinnern.
«Das ist immer so. Es gelingt uns nur an den wenigen Malen, großzügig mit uns selber zu sein, wo wir eigentlich streng mit uns sein sollten. «DAS EXERZITIUM DES SCHMERZES
Immer wenn dir ein Gedanke durch den Kopf geht, der dir schadet — Eifersucht, Selbstmitleid, Liebeskummer, Neid, Haß usw. -, dann tue folgendes:
Grabe den Nagel des Zeigefingers tief in das Nagelbett des Daumens, bis der Schmerz sehr intensiv ist. Konzentriere dich auf den Schmerz: Er spiegelt auf der körperlichen Ebene das Leiden wider, das du auf seelischer Ebene empfindest. Lockere den Druck erst, wenn der Gedanke aus deinem Kopf verschwunden ist. Wiederhole dies, bis der Gedanke dich verläßt, notfalls mehrfach hintereinander. Bei jedem Mal wird es länger dauern, bis der Gedanke wiederkehrt, und er wird ganz verschwinden, wenn du nicht aufgibst, jedesmal, wenn er kommt, den Fingernagel in die Nagelwurzel zu graben. Plötzlich fiel mir ein, daß ich mich für einen Idioten gehalten hatte, weil ich so mühsam den Alto del Perdon hinaufgestiegen war, während diese Touristen den einfacheren Weg genommen hatten. Ich wußte, daß dies nicht stimmte, daß ich nur grausam zu mir selber gewesen war. Die Touristen waren auf der Suche nach Sonne, ich hingegen auf der Suche nach meinem Schwert. Ich war kein Idiot und hatte mich dennoch wie einer gefühlt. Ich grub den Nagel meines Zeigefingers kräftig in die Nagelwurzel des Daumens. Ich spürte einen heftigen Schmerz, und während ich mich auf den Schmerz konzentrierte, verschwand dieses Gefühl, ich sei ein Idiot.
Ich erzählte das Petrus, und er lachte, ohne etwas dazu zu sagen.
In jener Nacht blieben wir in einem gemütlichen Hotel der kleinen Stadt, deren Kirche ich aus der Ferne gesehen hatte.
Nach dem Abendessen beschlossen wir, einen kleinen Verdauungsspaziergang zu machen.
«Von allen Dingen, auf die der Mensch gekommen ist, um sich selbst weh zu tun, ist das schlimmste die Liebe. Wir leiden ständig, weil jemand uns nicht liebt, weil jemand uns verlassen hat, weil jemand nicht von uns läßt. Wenn wir ledig sind, dann nur, weil uns niemand will, sind wir verheiratet, machen wir aus der Ehe Sklaverei. Schrecklich!«meinte er grimmig.
Wir gelangten auf einen kleinen Platz, an dem die Kirche lag, die ich gesehen hatte. Sie war klein und schlicht. Ihr Glockenturm ragte in den Himmel. Ich versuchte den Engel noch einmal zu sehen. Doch es klappte nicht.