Als ich dies gesagt hatte, schien die Zeit stillzustehen. Die Landschaft um mich herum veränderte sich, ohne daß Petrus seinen Daumen in meinen Nacken preßte. Es war so, als wären wir in eine ferne, graue Wüste versetzt worden. Weder Petrus noch der andere Junge war dort. Nur ich und der Junge vor mir, der jetzt älter war, sympathisch aussah, in dessen Augen jedoch etwas blitzte, das mir angst machte.
Diese Vision dauerte nicht länger als eine Sekunde. Im Augenblick darauf war ich wieder in Puente la Reina, wo sich viele Wege nach Santiago aus den verschiedensten Richtungen Europas zu einem Weg bündelten. Vor mir stand ein Junge, der mich um einen Ball bat und sanfte, traurige Augen hatte.
Petrus stand auf, nahm mir den Ball ab und gab ihn dem Jungen zurück.
«Wo ist der Reliquienschrein, den du mir versprochen hast?«
fragte Petrus den Jungen.
«Was für ein Reliquienschrein?«entgegnete der Junge, während er seinen Freund bei der Hand nahm, von uns weglief und ins Wasser sprang.
Wir stiegen den Steilhang wieder hinauf und gingen nun über die Brücke. Ich begann Petrus Fragen zu dem zu stellen, was eben geschehen war, erzählte ihm von der Wüste, doch Petrus wechselte das Thema und sagte, wir könnten darüber reden, wenn wir etwas weiter weg wären.
Eine halbe Stunde später gelangten wir an einen Teil des Weges, auf dem noch Reste des alten römischen Pflasters vorhanden waren. Dort gab es eine weitere, verfallene Brücke.
Wir setzten uns, um das Frühstück zu uns zu nehmen, das uns die Mönche mitgegeben hatten: Roggenbrot, Joghurt und Ziegenkäse.
«Weshalb wolltest du unbedingt den Ball des Jungen haben?«
fragte Petrus.
Ich entgegnete, daß ich den Ball gar nicht hätte haben wollen.
Daß ich so gehandelt hätte, weil er, Petrus, sich so merkwürdig verhalten habe. Als wäre der Ball für ihn etwas sehr Wichtiges.
«Und das war er in der Tat. Er hat ermöglicht, daß du siegreich aus dem Kampf mit deinem persönlichen Dämon hervorgehen konntest.«
Mein persönlicher Dämon? So etwas Absurdes hatte ich auf der ganzen Wanderung noch nicht gehört. Sechs Tage lang war ich kreuz und quer durch die Pyrenäen gelaufen, hatte einen Pater kennengelernt, der zwar Hexer war, aber nicht gehext hatte, und mein Finger war völlig wund, weil ich immer, wenn ich etwas für mich Schmerzliches dachte — Hypochondrisches, Schuldgefühle, Minderwertigkeitskomplexe — , den Fingernagel in meine Wunde hatte graben müssen. Was das betraf, da hatte Petrus recht: Meine negativen Gedanken waren entschieden weniger geworden. Doch diese Geschichte von meinem persönlichen Dämon schien mir doch etwas merkwürdig. Und ich würde das auch so schnell nicht glauben.
«Heute, bevor wir über die Brücke gingen, fühlte ich die Gegenwart von jemandem, der uns warnen wollte. Doch die Warnung galt eher dir denn mir. Ein Kampf würde sich schon bald ereignen, und es war an dir, den guten Kampf zu führen.
Kennt man seinen persönlichen Dämon nicht, offenbart er sich für gewöhnlich in der nächstbesten Person. Ich schaute um mich und sah unten die Jungen spielen. Und ich folgerte daraus, daß er dir dort eine Warnung geben würde. Doch es war nur eine Ahnung. Gewißheit, daß es dein persönlicher Dämon war, hatte ich erst in dem Augenblick, als du dich geweigert hast, den Ball zurückzugeben.«
Ich sagte ihm, ich hätte das nur getan, weil ich dachte, er wolle es so.
«Wieso ich? Ich habe zu keinem Zeitpunkt auch nur ein Wort gesagt.«
Mir wurde leicht schwindelig. Vielleicht lag es am Essen, das ich zu schnell in mich hineingestopft hatte, nachdem wir fast eine Stunde mit nüchternem Magen gewandert waren.
Gleichzeitig wurde ich dieses Gefühl nicht los, daß ich den Jungen irgendwie kannte.
«Dein persönlicher Dämon hat es auf die drei klassischen Methoden versucht: Er hat dir gedroht, er hat dir etwas versprochen, und er hat deine empfindliche Seite getroffen.
Meinen Glückwunsch, du hast mit Bravour widerstanden.«
Jetzt erinnerte ich mich daran, daß Petrus den Jungen nach dem Reliquienschrein gefragt hatte. Damals hatte ich gedacht, daß der Junge versucht hatte, mich zu betrügen. Doch es mußte tatsächlich dort einen verborgenen Reliquienschrein geben, denn ein Dämon macht niemals falsche Versprechungen.
«Der Junge konnte sich nicht an den Reliquienschrein erinnern, weil dein persönlicher Dämon bereits verschwunden war.«
Und ohne zu zögern, sagte er:
«Du mußt ihn jetzt bitten wiederzukommen. Du wirst ihn brauchen.«
Wir saßen auf der alten verfallenen Brücke. Petrus sammelte sorgfältig die Speisereste zusammen und steckte sie in die Papiertüte, die uns die Mönche gegeben hatten. Auf dem Feld vor uns begannen die Bauern von der Arbeit zurückzukommen, doch sie waren noch so weit von uns entfernt, daß man nicht hören konnte, was sie sagten. Das Gelände war hügelig, und die bestellten Äcker bildeten in der Landschaft geheimnisvolle Muster. Der von der Dürre fast ausgetrocknete Bach unter uns floß beinahe lautlos dahin.
«Bevor er in die Welt ging, sprach Jesus in der Wüste mit seinem persönlichen Dämon«, begann Petrus.»Er lernte von ihm, was er über den Menschen wissen mußte, doch er ließ nicht zu, daß der Dämon die Spielregeln aufstellte, und so besiegte er ihn.
Ein Dichter hat irgendwann einmal gesagt, daß kein Mensch eine Insel sei. Um den guten Kampf zu führen, brauchen wir Hilfe. Wir brauchen Freunde, und wenn gerade keine Freunde bei uns sind, müssen wir die Einsamkeit zu unserer wichtigsten Waffe machen. Alles, was uns umgibt, muß uns helfen, die notwendigen Schritte auf unser Ziel hin zu tun. Alles muß eine persönliche Manifestation unseres Willens sein, den guten Kampf zu gewinnen, andernfalls werden wir zu hochmütigen Kriegern. Und unser Hochmut wird uns am Ende besiegen, weil wir unserer selbst so sicher sind, daß wir den Hinterhalt auf dem Schlachtfeld nicht bemerken werden.«
Die Geschichte mit den Kriegern und den Kämpfen erinnerte mich erneut an Don Juan von Carlos Castaneda. Ich fragte mich, ob der alte indianische Hexer seine Lektionen morgens erteilte, bevor sein Schüler sein erstes Frühstück verdaut hatte.
Doch Petrus fuhr fort.
«Neben den physischen Kräften, die uns umgeben und helfen, gibt es zwei bedeutende spirituelle Kräfte an unserer Seite: einen Engel und einen Dämon. Der Engel beschützt uns immer, und er ist ein Geschenk Gottes. Man braucht ihn nicht zu rufen.
Das Antlitz deines Engels wird immer sichtbar sein, wenn du die Welt mit offenem Blick betrachtest. Es ist dieser Bach, die Bauern auf dem Feld, dieser blaue Himmel. Diese alte Brücke, die uns hilft, das Wasser zu überqueren, und die hier von den Händen namenloser römischer Legionäre errichtet wurde, auch diese Brücke ist das Antlitz deines Engels. Unsere Großeltern nannten ihn Schutzengel.
Auch der Dämon ist ein Engel, doch er ist eine freie, rebellische Kraft. Ich nenne ihn lieber den Boten, denn er ist die Hauptverbindung zwischen uns und der Welt. In der Antike wurde er durch Merkur dargestellt, durch Hermes Trismegistos, den Götterboten. Er agiert nur auf der materiellen Ebene. Er ist im Gold der Kirche, weil das Gold aus der Erde, seinem Herrschaftsbereich, stammt. Er ist in unserer Arbeit und in unserer Beziehung zum Geld. Wenn er frei und ungebunden ist, hat er die Tendenz, sich zu zersplittern. Treiben wir ihn aus, verlieren wir all das Gute, was wir von ihm lernen können, denn er kennt die Welt und die Menschen. Sind wir von seiner Macht zu sehr angezogen, ergreift er Besitz von uns und hält uns vom guten Kampf ab.
Daher ist die einzig richtige Art, mit unserem Boten umzugehen, ihn zu unserem Freund zu machen, seinen Rat anzuhören und um seine Hilfe zu bitten, wenn wir sie brauchen. Doch wir dürfen nie zulassen, daß er uns seine Regeln aufzwingt. So wie du es mit dem Jungen getan hast. Dazu mußt du allerdings genau wissen, was du willst. Dann erst wirst du sein Antlitz sehen und seinen Namen erfahren.«