«Aber warum?«
«Man muß den genauen Zeitpunkt des Kampfes rechtzeitig erkennen. Ich mußte schneller gehen, einen Gewaltmarsch machen, und du hast immer nur an dein Schwert gedacht. Was nützt einem Menschen ein Schwert, wenn er nicht weiß, wo er auf seinen Feind trifft?«
«Das Schwert ist mein Machtinstrument«, antwortete ich.
«Du bist zu sehr von deiner Macht überzeugt«, sagte er.»Der Wasserfall, die Praktiken der R.A.M., die Gespräche mit deinem Boten haben dich vergessen lassen, daß es noch einen weiteren Feind zu besiegen galt. Und daß diese neuerliche Begegnung angesagt war. Bevor die Hand das Schwert 'führt, muß sie den Feind erkennen und wissen, wie sie ihn angreifen muß. Das Schwert teilt nur den Hieb aus, doch die Hand ist schon vor dem Hieb Sieger oder Verlierer.
Dir ist es gelungen, die Legion ohne dein Schwert zu besiegen.
Es gibt ein Geheimnis bei dieser Suche, ein Geheimnis, das du noch nicht aufgedeckt hast. Doch wenn du dieses Geheimnis nicht aufdeckst, findest du nie, was du suchst.«
Ich schwieg beschämt. Immer wenn ich mir sicher war, daß ich meinem Ziel näher kam, stieß mich Petrus beharrlich darauf, daß ich ein einfacher Pilger sei, und immer fehlte mir etwas, um das zu finden, was ich suchte. Das freudige Gefühl, das mich Minuten zuvor erfüllt hatte, war vollkommen verschwunden.
Millionen von Pilgern waren vor mir tausend Jahre lang diesen Pilgerweg gegangen. Für sie war es nur eine Frage der Zeit, in Santiago anzukommen. In meinem Fall barg die >Tradition< immer neue Hindernisse, die es zu überwinden, immer neue Prüfungen, die es zu bestehen galt.
Ich sagte Petrus, daß ich müde sei, und wir setzten uns an einem Hang in den Schatten. Große Holzkreuze säumten den Weg. Petrus stellte die beiden Rucksäcke auf den Boden und redete weiter.»Ein Feind stellt immer unsere schwache Seite dar. Es kann die Angst vor physischen Schmerzen sein, aber auch die verfrühte Freude über einen vermeintlichen Sieg. Oder aber auch der Wunsch, den Kampf aufzugeben, weil man meint, er lohne sich nicht.
Unser Feind nimmt den Kampf erst dann auf, wenn er weiß, wo er uns treffen kann. Genau an dem Punkt, an dem wir uns für unbezwingbar halten, weil unser Stolz uns dies weisgemacht hat. Während des Kampfes versuchen wir stets unsere schwache Seite zu verteidigen, und der Feind schlägt dann an der unbekannten Seite zu, an der nämlich, auf die wir am meisten vertrauen. Und wir werden am Ende besiegt, weil geschieht, was niemals geschehen sollte: Wir lassen zu, daß der Feind die Art des Kampfes festlegt.«
Alles, was Petrus sagte, war während meines Kampfes mit dem Hund tatsächlich geschehen. Gleichzeitig aber lehnte ich den Gedanken ab, Feinde zu haben und gezwungen zu sein, gegen sie zu kämpfen. Als Petrus vom guten Kampf sprach, dachte ich immer, er meine den Kampf ums nackte Leben.
«Das meine ich natürlich auch, aber nicht nur. Kämpfen ist keine Sünde«, sagte er, nachdem ich ihm meine Zweifel vorgetragen hatte.»Kämpfen ist ein Akt der Liebe. Der Feind macht, daß wir uns entwickeln und verbessern, so wie es der Hund mit dir getan hat.«
«Dennoch wirkst du nie zufrieden mit mir. Immer fehlt etwas.
Jetzt kommst du mir mit dem Geheimnis meines Schwertes.«
Petrus gab zurück, darüber hätte ich mir schon vor Beginn meiner Pilgerfahrt klar sein müssen. Und sprach weiter über den Feind.
«Der Feind ist ein Teil der Agape, und es gibt ihn, damit er unsere Hand, unseren Willen, unsere Kunst, das Schwert zu führen, auf die Probe stellt. Er wurde absichtlich in unser Leben
— und wir in seines — gestellt. Und diese Aufgabe gilt es zu erfüllen. Daher ist die Flucht vor dem Kampf das Schlimmste, was uns passieren kann, schlimmer noch, als den Kampf zu verlieren, denn aus einer Niederlage können wir immer etwas lernen, doch mit der Flucht überlassen wir dem Feind den Sieg.«
Ich sagte Petrus, ich sei erstaunt, ihn so über Gewalt reden zu hören, wo er doch eine so enge Beziehung zu Jesus habe.
«Ich bin der Ansicht, daß Jesus Judas brauchte«, konterte er.
«Er mußte sich einen Feind erküren, um seinen Kampf auf Erden zu versinnbildlichen und zu verherrlichen.«
Die Holzkreuze am Wege gaben Zeugnis davon, wie diese Glorie errungen worden war, mit Blut und Verrat. Ich erhob mich und sagte, ich sei bereit, den Weg fortzusetzen.
Während wir wanderten, fragte ich, was das Stärkste sei, auf das sich ein Mensch stützen könne, um den Feind zu besiegen.
«Die Gegenwart. Der Mensch stützt sich am besten auf das, was er gerade tut, denn dort ist die Agape, der Wille, mit Begeisterung zu siegen.
Der Feind verkörpert in den seltensten Fällen das Böse. Er ist immer gegenwärtig, denn ein Schwert, das nicht benutzt wird, verrostet in seiner Scheide.«
Mir fiel ein, daß meine Frau damals, als wir unser Ferienhaus bauten, in letzter Minute die Aufteilung eines der Zimmer änderte. Mir fiel die undankbare Aufgabe zu, dem Maurer diese Änderung mitzuteilen. Ich rief den fast Sechzigjährigen zu mir und sagte ihm, was ich wollte. Er schaute es sich an, überlegte und machte dann einen sehr viel besseren Vorschlag, indem er die Wand nutzte, die er gerade hochzog. Meine Frau fand die Idee wunderbar.
Vielleicht wollte Petrus mir mit komplizierten Worten genau das sagen, nämlich daß wir die Kraft dessen, was wir gerade tun, nutzen sollten, um den Feind zu besiegen.
Ich erzählte ihm die Geschichte mit dem Maurer.
«Das Leben lehrt uns immer mehr als der Jakobsweg«, antwortete er.»Nur vertrauen wir den Lehren des Lebens meist nicht.«
Die Kreuze säumten im Abstand von dreißig Metern die Rota Jacobea. Es mußte das Werk eines Pilgers mit geradezu übermenschlichen Kräften sein. Sonst hätte er das feste, schwere Holz nicht aufrichten können.
«Diese Kreuze sind ein altes, überholtes Folterinstrument.
Wahrscheinlich hat jemand ein Gelübde abgelegt, was weiß ich.«
Wir blieben vor einem der Kreuze stehen. Es war umgestürzt.
«Vielleicht war das Holz morsch«, meinte ich.
«Das Holz ist nicht anders als das der anderen. Keins ist morsch.«
«Dann wurde es wohl nicht richtig in die Erde eingelassen.«
Petrus blieb stehen und blickte um sich. Er ließ den Rucksack zu Boden gleiten und setzte sich. Dabei hatten wir erst vor ein paar Minuten Rast gemacht. Instinktiv blickte auch ich mich um und hielt Ausschau nach dem Hund.
«Du hast den Hund besiegt«, sagte er, als könnte er meine Gedanken lesen.»Fang jetzt nicht an, Gespenster zu sehen.«
«Und warum rasten wir schon wieder?«
Petrus machte mir ein Zeichen, still zu sein, und verfiel in längeres Schweigen.
Nach geraumer Weile fragte er unvermittelt:
«Was hörst du?«
«Nichts. Die Stille.«
«Schön wär's, wenn wir so erleuchtet wären, daß wir die Stille hörten! Aber wir Menschen können ja noch nicht einmal unser eigenes Geschwätz hören. Du hast mich gefragt, wie ich das Kommen der Legion vorausgefühlt habe. Ich will es dir sagen: Ich habe es gehört. Das Geräusch begann schon vor vielen Tagen. Damals waren wir noch in Astorga. Von dort an bin ich schneller gegangen, denn alles wies darauf hin, daß unsere Wege sich in Foncebadon kreuzen würden. Du hast dasselbe Geräusch gehört, aber du hast es nicht beachtet.
Alles steht in dem Geräusch geschrieben: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Menschen. Ein Mensch, der nicht hören kann, verschließt sich den Ratschlägen, die uns das Leben fortwährend anbietet. Nur wer das Geräusch der Gegenwart wahrnimmt, kann die richtige Entscheidung treffen.«
Petrus bat mich, den Hund zu vergessen und mich zu ihm zu setzen, er würde mich jetzt eine der einfachsten und wichtigsten Praktiken des Jakobsweges lehren.
Und er erklärte mir das Exerzitium des Hörens.
«Am besten, du probierst es gleich aus.«
Ich hörte den Wind, eine Frauenstimme in der Ferne, und irgendwann hörte ich das Knacken eines Zweiges. Das war wirklich keine schwierige Übung, und ihre Einfachheit faszinierte mich. Ich preßte das Ohr auf den Boden und begann, den dumpfen Ton der Erde zu vernehmen. Ganz allmählich lernte ich die Geräusche voneinander zu unterscheiden: das Geräusch der reglosen Blätter, eine Stimme in der Ferne, das Geräusch schlagender Vogelflügel. Ein Tier grunzte, doch ich konnte nicht heraushören, was für ein Tier das war.