Ich stand auf, zog meine lange Hose und ein sauberes Hemd an und erneuerte die Verbände. Vorsichtig wickelte ich sie ab: Die Wunden begannen bereits zu vernarben, und ich fühlte mich gestärkt und frohgemut.
Wir aßen im Hotelrestaurant zu Abend. Petrus bestellte die Spezialität des Hauses, eine Paella Valenciana, die wir mit einigen Gläsern köstlichen Riojas schweigend hinunterspülten.
Nach dem Essen lud mich Petrus zu einem Spaziergang ein.
Wir verließen das Hotel und gingen Richtung Bahnhof, Petrus wie üblich schweigend. Wir gelangten zu einem dreckigen, nach Öl stinkenden Rangierbahnhof. Petrus hockte sich auf das Trittbrett einer riesigen Lokomotive.
«Setz dich neben mich«, sagte er.
Doch ich wollte meine Hosen nicht schmutzig machen und blieb stehen. Ich fragte ihn, ob wir nicht lieber zum Hauptplatz von Ponferrada gehen könnten.»Der Jakobsweg ist fast zu Ende«, sagte mein Führer.»Und da unsere Realität diesen nach Öl stinkenden Waggons näher ist als den idyllischen Winkeln, die wir von unserer Wanderung her kennen, möchte ich, daß unsere heutige Unterhaltung hier stattfindet.«
Dann bat er mich, Turnschuhe und Hemd auszuziehen, und lockerte mir die Verbände an den Armen, so daß diese freier beweglich waren. Die an den Händen beließ er, wie sie waren.
«Mach dir keine Sorgen«, sagte er.»Du brauchst deine Hände jetzt nicht. Zumindest müssen sie nichts greifen.«
Er war ernster als sonst, und sein Tonfall ließ mich aufhorchen.
Irgend etwas Wichtiges würde gleich geschehen.
Petrus setzte sich wieder auf das Trittbrett der Lokomotive und sah mich lange an. Dann sagte er:
«Über das, was gestern geschehen ist, möchte ich nichts sagen. Du wirst selber herausfinden, was es bedeutet -
allerdings erst, wenn du dereinst den Pilgerweg nach Rom gehst, den Weg der Charismen und der Wunder. Ich möchte dich nur vor etwas warnen: Menschen, die sich für weise halten, zögern, wenn sie befehlen sollen, und rebellieren, wenn sie dienen sollen. Sie glauben, es sei eine Schande, Befehle zu geben, und ehrenrührig, Befehle zu empfangen.
Im Hotelzimmer hast du gesagt, daß der Weg der Erkenntnis dazu führt, geopfert zu werden. Das ist falsch. Deine Lehrzeit ist gestern nicht zu Ende gegangen. Die Praktiken der R.A.M.
bringen den Menschen dazu, den guten Kampf zu kämpfen und größere Chancen im Leben zu haben. Deine gestrige Erfahrung ist nur eine Prüfung des Jakobsweges und als solche sozusagen eine Vorbereitung für den Pilgerweg nach Rom.«
Und wehmütig fügte er hinzu:»Es macht mich traurig, daß du so denkst.«
Es stimmte, was er sagte: Die ganze Zeit, die wir jetzt schon zusammen waren, hatte ich fast an allem gezweifelt, was er mich lehrte. Ich war nicht demütig und mächtig wie Castaneda in seiner Beziehung zu Don Juan, sondern hochfahrend und rebellisch angesichts der Einfachheit der Praktiken der R.A.M.
Doch für diese Erkenntnis war es jetzt zu spät.
«Schließ die Augen«, gebot Petrus.»Mach die R.A.M.-
Atemübung, und versuche mit diesem Eisen, diesen Maschinen und diesem Ölgestank in Einklang zu kommen. Dies ist unsere Welt. Du darfst die Augen erst wieder öffnen, wenn ich meinen Teil zu Ende gebracht habe und dir ein weiteres Exerzitium beibringe.«
Ich konzentrierte mich auf den Atem und schloß die Augen.
Mein Körper begann sich zu entspannen. Zuerst lauschte ich den Geräuschen der Stadt, ein paar bellenden Hunden in der Ferne und dem Raunen von Stimmen, die nicht weit von uns miteinander stritten. Plötzlich hörte ich Petrus einen italienischen Pepino-di-Carpi-Schlager anstimmen, der in meiner Jugend ein großer Hit gewesen war. Ich verstand zwar die Worte nicht, doch das Lied weckte alte Erinnerungen und half mir, mich zu entspannen.
«Vor nicht allzu langer Zeit«, begann Petrus,»- ich arbeitete gerade an einem Projekt für die Präfektur von Mailand — erhielt ich eine Botschaft von meinem Meister. Jemand sei den Weg der >Tradition< zu Ende gegangen, habe aber nicht sein Schwert empfangen. Ihn sollte ich auf dem Jakobsweg führen.
Ich war nicht weiter überrascht; ich war darauf gefaßt, daß es irgendwann passieren würde, denn ich hatte meine Aufgabe noch nicht erfüllt: einen Pilger auf der >Milchstraße< zu führen, so wie ich einst geführt worden war. Doch ich war auch nervös, weil es das erste und einzige Mal sein würde und weil ich nicht wußte, ob ich meiner Aufgabe gewachsen sein würde.«
Pertrus' Worte überraschten mich sehr. Ich war davon ausgegangen, daß er schon zigmal den Jakobsweg gegangen war.
«Du bist gekommen, und ich habe dich geführt«, fuhr er fort.
«Ich muß gestehen, daß es am Anfang sehr schwer war, weil du dich mehr für die intellektuelle Seite der Lehren interessiertest als für den wahren Sinn des Jakobsweges, der der Weg der gewöhnlichen Menschen ist. Nach unserer Begegnung mit Alfonso wurde meine Beziehung zu dir sehr viel enger und stärker, und ich glaubte, ich würde dich dazu bringen, das Geheimnis deines Schwertes selbst herauszufinden. Doch das war nicht der Fall, und jetzt mußt du es in dem bißchen Zeit, das dir noch bleibt, ganz allein ergründen.«
Das Gespräch nahm eine Wendung, die mich beunruhigte und mich bei der R.A.M.-Atemübung aus dem Tritt brachte. Petrus mußte das bemerkt haben, denn er stimmte erneut den Schlager an und hörte erst auf, als ich wieder entspannt war.
«Wenn du das Geheimnis enträtselst und dein Schwert findest, wirst du auch das Antlitz der R.A.M. entdecken und der Macht teilhaftig werden. Doch das ist noch nicht alles. Um das allumfassende Wissen zu erlangen, wirst du die anderen beiden der >drei Wege< gehen müssen, auch den geheimen Weg, den dir niemand, der ihn bereits gegangen ist, enthüllen wird. Ich sage dir das alles auch nur, weil wir uns jetzt nur noch einmal begegnen werden.«
Mir stockte das Herz, und ich öffnete unwillkürlich die Augen.
Ich konnte mich nicht mehr konzentrieren. Mein Führer summte wieder den Schlager, und es dauerte lange, bis es mir gelang, mich etwas entspannen.
«Morgen wirst du eine Nachricht erhalten, die dir sagen wird, wo ich bin. Es wird ein kollektives Initiationsritual stattfinden, ein Ritual zu Ehren der >Tradition<. Zu Ehren der Männer und Frauen, die in all diesen Jahrhunderten geholfen haben, die Flamme der Erkenntnis, des guten Kampfes und der Agape zu nähren. Du wirst nicht mit mir reden können, da es ein heiliger Ort ist, an dem wir uns treffen, getränkt mit dem Blut der Ritter, die den >Weg der Tradition< gegangen sind und denen es trotz ihrer scharfen Schwerter nicht gelungen ist, die Finsternis zu besiegen.
Doch ihr Opfermut war nicht umsonst. Zum Beweis dafür treffen sich morgen, Jahrhunderte später, Menschen dort, die sehr unterschiedliche Wege gehen, um ihren Tribut zu leisten. Eins mußt du dir merken: Selbst wenn du einmal ein Meister wirst, vergiß nie, daß dein Weg nur einer von vielen ist, die zu Gott führen. Jesus hat einmal gesagt, daß im Haus seines Vaters viele Wohnungen sind, und er wußte genau, wovon er sprach.
Eines fernen Tages wirst auch du eine Nachricht von mir erhalten, in der ich dich bitten werde, jemanden auf dem Jakobsweg zu führen, so wie ich es mit dir getan habe. Dann erst wirst du das große Geheimnis der Wanderung durchleben -
ein Geheimnis, das ich dir jetzt nur mit Worten enthülle, das aber selbst gelebt werden muß, damit man es versteht.«
Dann folgte Stille. Ich dachte schon, Petrus hätte es sich anders überlegt und sei bereits jetzt gegangen. Am liebsten hätte ich die Augen geöffnet, um mich zu vergewissern, doch ich bezwang mich und konzentrierte mich auf die Atemübung.
«Das Geheimnis ist folgendes«, sagte Petrus' Stimme endlich.
«Du kannst nur lernen, indem du lehrst. Gemeinsam sind wir den Jakobsweg gegangen, doch während du die Praktiken lerntest, lernte ich erst deren Bedeutung kennen. Indem ich dich lehrte, lernte ich die Wahrheit. Indem ich die Rolle des Führers annahm, fand ich meinen eigenen Weg.