Jede Viertelstunde stieß jemand Neues dazu: ein Australier, fünf Spanier, ein weiterer Niederländer. Außer über die Frage der Uhrzeit, die bei allen Zweifel erweckt hatte, sprachen wir nicht weiter miteinander. Wir setzten uns in einen verfallenen Vorraum, an dessen Stelle wohl einstmals die Vorratskammer gelegen war, und beschlossen zu warten, wenn's sein mußte auch einen weiteren Tag und eine weitere Nacht.
Wir vertrieben uns die Wartezeit damit, daß wir über die Gründe sprachen, die uns hierhergeführt hatten. So erfuhr ich, daß der Jakobsweg von unterschiedlichen Orden benutzt wurde, die zum größten Teil mit der >Tradition< verbunden waren. Die hier Anwesenden hatten viele Prüfungen und Initiationsrituale durchlaufen, von denen ich die meisten allerdings noch von Brasilien her kannte. Nur der Australier und ich waren Anwärter auf den höchsten Grad des >ersten Weges<. Obwohl wir nicht länger darüber sprachen, merkte ich, daß der Weg des Australiers nichts mit den Praktiken der R.A,M. gemein hatte.
Gegen Viertel vor neun erscholl in der alten Burgkapelle ein Gong, und wir gingen gemeinsam hinüber.
Der Anblick war beeindruckend. Die Kapelle — oder besser, was davon übrig war, denn auch sie war weitgehend verfallen — war von Fackeln erleuchtet. Dort, wo einst der Altar gestanden hatte, hoben sich sieben Gestalten ab, die mit den jahrhundertealten Gewändern der Templer bekleidet waren: Kappe und Helm aus Stahl, Panzerhemd, Schwert und Schild.
Es verschlug mir den Atem: Es war so, als sei ich in eine andere Zeit zurückversetzt. Das einzige, was noch an die Realität gemahnte, war unsere Kleidung, die Jeans und die T-Shirts mit den aufgenähten Kammmuscheln.
Selbst im schwachen Licht der Fackeln konnte ich erkennen, daß einer der Ritter Petrus war.»Tretet näher zu euren Meistern«, sagte einer von ihnen, der wie der Älteste wirkte.»Seht ihnen nur in die Augen. Entkleidet euch und empfangt die Gewänder.«
Ich trat zu Petrus und blickte ihm tief in die Augen. Er befand sich in einer Art Trance und schien mich nicht zu erkennen.
Doch ich bemerkte eine gewisse Traurigkeit in seinem Blick, die gleiche Traurigkeit, die am Vorabend in seiner Stimme mitgeklungen hatte. Ich zog mich ganz aus, und Petrus überreichte mir eine Art schwarze, wohlriechende Tunika, die locker an meinem Körper herabfiel. Einer dieser Meister muß mehr als einen Schüler haben, mutmaßte ich, doch ich konnte es nicht nachprüfen, wer es war, da ich Petrus in die Augen blicken mußte.
Der Hohepriester führte uns in die Mitte der Kapelle, und zwei Ritter begannen, einen Kreis um uns herum zu ziehen, und sprachen, während sie ihn heiligten.
So wurde der Kreis als unentbehrlicher Schutz für jene gezogen, die sich in ihm befanden. Ich bemerkte, daß vier von uns eine weiße Tunika trugen, was bedeutete, daß sie vollkommene Keuschheit gelobt hatten.
«Amides, Theonidias, Anitor!«sagte der Hohepriester.»Kraft der Engel, Herr, lege ich das Gewand der Erlösung an. Möge alles, was ich wünsche, Wirklichkeit werden durch Dich, hochheiliger Adonai, dessen Reich ewig währt. Amen.«
Der Hohepriester legte den weißen Umhang mit dem rotgestickten Templerkreuz über das Kettenhemd, und die anderen Ritter folgten seinem Beispiel.
Punkt neun Uhr, in der Stunde Merkurs, des Boten, stand ich erneut inmitten eines Kreises der >Tradition<. Der Duft von Weihrauch, Minze, Basilienkraut und Benzoe erfüllte die Kapelle. Und die Ritter begannen mit der Anrufung des mächtigen Königs N. Ich hatte bereits an unzähligen ähnlichen Zeremonien teilgenommen, doch die Templerburg schien meine Phantasie anzuregen, denn plötzlich vermeinte ich in der linken Ecke der Kapelle einen glitzernden Vogel zu sehen. Dann besprengte uns der Hohepriester mit Wasser, ohne das Innere des Kreises zu betreten, und schrieb mit geweihter Tinte die 72 Namen auf den Boden, mit denen Gott in der >Tradition< angerufen wird.
Wir alle, Pilger und Ritter, begannen die heiligen Namen zu sprechen. Die Flammen der Fackeln knisterten, ein Zeichen, daß der angerufene Geist sich unterworfen hatte.
Dann kam das Tanzen. Niemand durfte den Schutzkreis übertreten. Ich prägte mir den Umfang des Kreises ein und tat genau, was Petrus mich gelehrt hatte.
Ich dachte an meine Kindheit. Eine Stimme, eine ferne weibliche Stimme in mir, stimmte ein Wiegenlied an. Ich kniete nieder, rollte mich ganz in Samenposition ein und spürte, wie meine Brust, nur meine Brust, zu tanzen begann. Ich fühlte mich wohl und war bereits ganz in das Ritual der >Tradition< eingetaucht. Allmählich veränderte sich die Musik in mir, die Bewegungen wurden heftiger, und ich fiel in eine tiefe Ekstase.
Alles um mich herum war dunkel, und mein Körper wurde wie schwerelos. Ich durchstreifte die blühenden Wiesen von Aghata und traf dort meinen Großvater und einen Onkel, der meine Kindheit entscheidend geprägt hatte. Ich spürte, wie die Zeit in ihrem Spinnennetz aus Quadraten vibrierte, in denen alle Straßen zusammenlaufen und ineinander aufgehen und einander ähnlich werden, obwohl sie so unterschiedlich sind.
Irgendwann sah ich den Australier blitzschnell vorüberziehen: Sein Körper war von einem roten Glanz überzogen.
Die nächste Vision war ein Kelch und ein Hostienteller, und dieses Bild blieb sehr lange, als wollte es mir etwas sagen.
Ich vermochte es nicht zu deuten, obwohl die Botschaft sicher mit meinem Schwert zu tun hatte. Dann vermeinte ich das Antlitz der R.A.M. zu sehen, das aus der Dunkelheit hervortrat, als Kelch und Hostienteller verschwanden. Doch als es sich näherte, war es nur das Antlitz von N., dem angerufenen Geist und meinem alten Bekannten. Wir nahmen keinen Kontakt zueinander auf, und sein Antlitz löste sich in der wabernden Dunkelheit auf. Ich weiß nicht, wie lange wir getanzt haben. Plötzlich hörte ich eine Stimme:
«JAHWE, TETRAGRAMMATON…«, doch ich wollte nicht aus der Trance erwachen. Die Stimme aber rief beharrlich:
«JAHWE, TETRAGRAMMATON…«, und ich erkannte die Stimme des Hohenpriesters, die uns aus der Trance zurückholte.
Widerstrebend kehrte ich zur Erde zurück. Befand mich erneut im magischen Kreis in der uralten Templerburg.
Wir Pilger sahen einander an. Der jähe Schnitt schien allen mißfallen zu haben. Ich konnte mich kaum zurückhalten, dem Australier zu sagen, daß ich ihn gesehen hatte. Als ich ihn ansah, merkte ich, daß Worte überflüssig waren: Er hatte mich auch gesehen.
Die Ritter stellten sich im Kreis um uns herum auf und schlugen mit den Schwertern auf die Schilde, was einen ohrenbetäubenden Lärm hervorrief. Dann ersuchte der Hohepriester den Geist, sich friedlich zurückzuziehen:»Möge der Friede Gottes immer zwischen dir und mir herrschen.
Amen.«
Der Kreis wurde aufgelöst, und wir knieten alle mit gesenktem Kopf nieder. Ein Ritter betete sieben Vaterunser und sieben Ave-Marias mit uns. Der Hohepriester fügte ein Glaubensbekenntnis hinzu, indem er sagte, Unsere Heilige Mutter von Medjugorje, die seit 1982 in Jugoslawien erscheint, habe es so bestimmt. Wir begannen nun mit einem christlichen Ritual.
«Andrew, erhebe dich und trete vor«, befahl der Hohepriester.
Der Australier ging zum ehemaligen Altar, wo die sieben Ritter inzwischen wieder Aufstellung genommen hatten.
Ein weiterer Ritter, der sein Führer sein mußte, sagte:»Bruder, suchst du die Gemeinschaft des Hauses und die barmherzigen Anordnungen, die in ihm herrschen?«Der Australier bejahte.
Und mir wurde klar, welches christliche Ritual wir gerade erlebten: die Initiation eines Templers.»Ich bin bereit, alles im Namen Gottes zu ertragen, und ich möchte Diener des Hauses sein für den Rest meiner Tage.«
Es folgten noch viele weitere rituelle Fragen und Ermahnungen.