Er wusste nicht mehr, wie er den gestrigen Nachmittag verbracht hatte – vermutlich dösend in seinem Büro. Irgendwann hatte er sich krank gemeldet und war nach Hause gegangen. Er hatte sich früh schlafen gelegt und war deshalb auch früh aufgewacht – nun versuchte er, seine Gedanken so weit zu ordnen, dass er wieder klar denken konnte.
Es war wie ein Traum gewesen, etwas Unwirkliches, das vorübergeht. Nun ja, er gestand sich ein, dass er Angst gehabt hatte – schon auf der psychologischen Station des Dr. Occoroni. Und dann hatte sich die Angst noch weiter gesteigert: die Angst vor dem, was da noch kommen könnte. Doch das, was dann geschehen war, hatten seine Bewusstseinsschichten nicht mehr voll erfasst. Die Injektion hatte ihn auf eine schwer begreifbare Weise in einen anderen Zustand geworfen. Was dann folgte, war irgendwo in tieferen Regionen vor sich gegangen, dort, wo die Erinnerungen abgelegt sind – genau genommen ein unglaublicher Zugriff in diese privatesten Sphären der Persönlichkeit, und merkwürdigerweise trotzdem ohne besondere emotionale Begleitung, ohne Auflehnung, ohne Empörung. Unzählige aufdämmernde und wieder ins Dunkel zurücktretende Bilder, viele unvollständig, unbestimmt – und unwichtig. Das Einzige, was er als stärkstes und treibendes Moment in der Erinnerung behalten hatte, war der Wunsch, Informationen über Angelo zu aktivieren. Doch es war ein vergebliches Bemühen: Er wusste nichts.
Immerhin: Jetzt sah es wohl auch Gorosch ein, dass sein Delinquent ahnungslos war. Und so bestand die Hoffnung, dass diese jenseits jeder Logik liegende Unterbrechung in Robins Leben nun zu Ende war.
Robin stieg aus dem Bett und folgte der üblichen Routine im Waschraum und in der Kochnische. Doch als er dann beim Frühstück saß, merkte er, dass er dabei mit seinen Gedanken ganz woanders gewesen war. Was beschäftigte ihn? Noch immer die Ereignisse des letzten Tages? Nein, stellte er fest, das war es nicht. Er hatte über Angelo nachgedacht. Natürlich wusste er nicht viel mehr, als er allen Fragestellern bereitwillig mitgeteilt hatte, aber immerhin: Er hatte Angelo gekannt, war sogar mit ihm befreundet gewesen. Bot sich ihm dadurch vielleicht doch eine bessere Chance, das Geheimnis zu lösen?
Doch was ging es ihn eigentlich an, was mit dem Engel geschehen war? Schließlich hatte der sich in den letzten Jahren kein einziges Mal bei ihm gemeldet. Wenn Robin sich selbst gegenüber ehrlich war, dann hatte er das allerdings auch nicht erwartet.
Zuerst war es eine spontane Idee gewesen, Angelo wiederzusehen, mit ihm zu plaudern, einiges von seiner Arbeit zu berichten und von ihm vielleicht sogar etwas Interessantes zu erfahren. Doch nun hatte sich etwas geändert, jetzt wollte er wissen, was geschehen war. Und jetzt war es nicht mehr ein gedämpftes Interesse, sondern es war auf unerklärbare Weise entscheidend wichtig geworden, das Geheimnis um Angelos Verschwinden zu lüften.
Mit dieser Einsicht fielen auch alle Zweifel von ihm ab: Es ging darum, einen undurchsichtigen Fall zu lösen, und genau das würde er tun. Diesmal war es ein ganz persönlicher Fall, und er würde nicht locker lassen, bis er ihn gelöst hatte.
Endlich konnte sich Robin seinem Frühstück zuwenden … Er fühlte sich auf seltsame Weise befreit. Hatte er schon einen Toast gegessen oder nicht? Egal – er nahm sich eine Scheibe und schmierte eine dicke Schicht Erdnussbutter darauf, dazu einige kräftige Schlucke heißen Kaffee … das tat gut.
Robin war bester Laune. Er würde den Weg zum Institut wie üblich zu Fuß zurücklegen, und er würde bei seinem Vorgesetzten, dem Abteilungsleiter, vorsprechen und einfach nach Angelo Brugger fragen.
Und wenn er keine Antwort bekam? Nun, schließlich war Robin Ermittlungsbeamter, und er beherrschte sein Fach. Er würde alle seine Kenntnisse und Tricks einsetzen.
Das Verhältnis zu seinem Büroleiter Raymond war ganz gut. Und so traf er sich mit ihm in der Kantine, sie setzten sich an die Theke und zapften Ingwerbrause aus dem Automaten.
Wie Robin erwartet hatte, wusste Raymond nichts von dem, was Angelo widerfahren war. Der Name Angelo Brugger sagte ihm nichts, aber er zeigte sich auch nicht ungehalten über Robins Nachfrage. Allerdings war er ein wenig verärgert darüber, dass einer seiner Mitarbeiter von anderer Seite ohne vorherige Absprache mit ihm so hart in die Zange genommen worden war. Als Robin jedoch zuletzt den Namen Gorosch erwähnte, wurde Raymond auf auffällige Weise wortkarg. Robin hatte den Eindruck, dass Raymond die Geschichte jetzt gar nicht mehr zu Ende hören wollte.
»Wenn die Security beteiligt ist, dann ist die Sache heikel«, meinte Raymond. »Dadurch wird jede Angelegenheit gewissermaßen zur Chefsache. Und das heißt, mein Freund, dass ich da nichts machen kann.« Er rutschte vom Hocker, offenbar ein Zeichen zum Aufbruch, und Robin blieb nichts anderes übrig, als sich damit zufrieden zu geben.
Raymond blickte auf das Display an der Wand, das alle möglichen Daten aus dem Betrieb zeigte, beispielsweise die Zahl der gerade laufenden Prozesse, die Zahl der einsitzenden Untersuchungs- und Strafgefangenen und irgendwo, an versteckter Stelle, eben auch die Uhrzeit. »Ein Termin …«, sagte er, »ich hatte ihn völlig vergessen.« Es sah so aus, als hätte er es plötzlich sehr eilig.
Robin stellte sich ihm in den Weg. »Was rätst du mir?«, fragte er.
Raymond, der sich schon in Bewegung gesetzt hatte, hielt an und schien nachzudenken. »Musst du denn dieser Sache unbedingt nachgehen?«, fragte er fast vorwurfsvoll. Dann setzte er hinzu: »Da gäbe es eine Möglichkeit … Die Direktion … melde dich bei Masterson, dem Direktionsassistenten – der ist für so was zuständig. Und mach’s gut. Ich bin immer für dich da.«
Mit drei schnellen Schritten ging er um Robin herum und war nur noch von hinten zu sehen.
Robin ließ sich nicht beirren. Er zog eine Aspikroulade aus dem Automaten, aß sie mit Appetit und trank in Ruhe seine Brause aus.
Nun gut, was den Assistenten betraf, so hatte er seine Zweifel, aber er konnte es ja versuchen: Er kehrte in sein Zimmer zurück, dort lagen noch einige Akten herum, die er bearbeiten sollte. Doch bevor er die Arbeit aufnahm, meldete er sich in einer »dringenden Angelegenheit« bei Masterson. Eine Stunde später bekam er den Termin. Die Sekretärin betonte, dass Robins Anliegen gerade noch zwischen zwei Konferenzen eingeschoben worden war, und Robin bedankte sich mit ausgesuchter Höflichkeit.
Es war gegen Abend, als er an der angegebenen Stelle, vor der Tür eines Konferenzzimmers, wartete. Dort stand ein junger Mann im weißen Mantel des Büropersonals und machte Robin darauf aufmerksam, dass drinnen eine Diskussion im Gange sei, die noch eine Weile dauern würde.
»Ich habe eine Verabredung mit Masterson«, antwortete Robin.
»Ah, Sie sind das«, sagte der junge Mann und zeigte dadurch, dass er Robins Besuch erwartet hatte. Er holte sein Miniphon aus dem Täschchen am Gürtel. »Er ist hier«, sagte er leise, als sollte es niemand anderer hören.
Kurze Zeit darauf öffnete sich die Tür einen Spalt weit, und Masterson blickte hinaus. Ohne den Konferenzraum zu verlassen, winkte er Robin zu sich. »Ich bin über alles informiert«, sagte er leise, als Robin zu einer Erklärung ansetzen wollte. »Die Angelegenheit ist erledigt. Verstehst du? Erledigt.«
Der Assistent versuchte die Tür wieder zuzuziehen, aber inzwischen schien die Konferenz nun doch zu Ende zu gehen, die Teilnehmer hatten es eilig, den Saal zu verlassen, und so blieben beide notgedrungen nebeneinander stehen, um den Strom der Leute vorüberziehen zu lassen.
»Masterson, was ist hier los?« Die beiden hatten nicht bemerkt, dass ein Mann, der als einer der Ersten den Saal verlassen hatte, stehen geblieben war und sie musterte. Es war van der Steegen, der Direktor selbst.
Masterson stammelte: »Herr Direktor, der Kollege belästigt mich …«
»Ich habe mich ordnungsgemäß angemeldet«, sagte Robin mit erhobener Stimme.