Schließlich hatte ich dieses Hindernis überwunden und die Ebene erreicht. Die Sonne war längst unter dem Horizont verschwunden, und ich musste an mein Biwak denken.
Ich beschloss, hier am Rand der Erhebungen zu bleiben. Das Eis der hinter mir liegenden Böschung war von Schluchten durchzogen, an den Wänden waren Nischen und Löcher entstanden, und ich brauchte nicht lange zu suchen, um unter einem Überhang eine geschützte Stelle zu finden, an der ich übernachten konnte.
Vom Wind geschützt, bereitete ich mir eine Mahlzeit. Es war erst das zweite Biwak auf meiner Wanderung, und doch kam es mir schon wie Routine vor: den Kocher einschalten, Eis schmelzen, eine kurze Überlegung, wie ich meinen Speisezettel an diesem Abend zusammenstellen könnte …
Ich hatte Hunger und Durst, und ich nahm meinen Appetit als Hinweis, dass ich die Anstrengungen körperlich und geistig gut überstanden hatte.
Und als ich dann im Schlafsack lag und auf das Eindämmern wartete, kam sogar so etwas wie ein heimeliges Gefühl auf.
Das Wochenende hatte Robin schlecht gelaunt und nachdenklich hinter sich gebracht. Er konnte es nicht erwarten, sein Programm im System Platon zu installieren und zu erproben.
Am darauf folgenden Montag saß er ungewöhnlich früh im Büro und steckte den Chip mit seinem neuen Programm unverzüglich in die Buchse. Glücklicherweise war er derzeit mit einem Fall beschäftigt, der keinen besonderen Zeitaufwand erforderte und den man mit Routine erledigen konnte – ein klassischer Betrug bei einer finanziellen Transaktion. Auch hier lief ein Hauptteil der Arbeit über verschiedene Suchmaschinen, darunter auch solche für die Analyse semantischer Zusammenhänge, und diese Programmläufe setzte Robin zunächst einmal in Funktion.
Seine eigenen Untersuchungen begann er mit statistischen Auswertungen, und mit Hilfe seines illegalen Hilfsprogramms richtete er es so ein, dass ein Außenstehender, der sich für Robins Tätigkeit interessierte, annehmen musste, es ginge um das Thema des Bankbetrugs.
Wie immer, wenn er zur Bearbeitung eines Falles nur unzulängliche Informationen über die beteiligten Personen besaß, nahm er sich zuerst die Texte und Bilder vor, die diese aus verschiedensten Informationssystemen abgerufen hatten. Und die erste Person, der er sich zuwandte, war van der Steegen. Er war einer von jenen, die zweifellos einiges über Angelos Verschwinden wussten.
Schon nach einer halben Stunde hielt er einen Ausdruck der Ergebnisse in der Hand. Die Häufigkeit der Begriffe war nicht nur in Prozent angegeben, sondern zusätzlich nach Auffälligkeit gewichtet. Das war natürlich noch keine Garantie dafür, dass sie sich als Schlüssel zur Lösung der gestellten Fragen eigneten, und deshalb kam es bei der Auswertung auf die Erfahrung des Bearbeiters an, der versuchen musste, die aufschlussreichen Informationen herauszufinden und sie in den Zusammenhang mit der gestellten Aufgabe zu bringen. Bei dieser Arbeit hatte sich Robin immer als recht geschickt erwiesen.
Das Wort, das schon bei flüchtigem Durchsehen der Liste auffällig oft erschien, war »Mafia«. Dieser Begriff tauchte erst seit ein paar Monaten in den Protokollen auf, was ein Zeichen dafür war, dass es sich um eine für van der Steegen derzeit aktuelle und bedeutsame Fragestellung handelte.
Robin wusste nur vage, was der Begriff bedeutete, er löste aber in ihm Assoziationen zu irgendwelchen dunklen Machenschaften aus. Als er das Wort markierte und das Lexikon aufrief, fand er Hinweise auf ein paar klassische Abenteuerbücher und Actionfilme, was ihm nicht weiterhalf – vielleicht stammte das Wort aus der Literatur? Systematisch ging er Jahr für Jahr in die Vergangenheit zurück. Erst ab den Jahren 2016-18 erschien auf dem Bildschirm eine Erklärung:
M’afia, polit. Geheimbund in Sizilien, 1800-60 im Kampf gegen die Bourbonen bedeutsam; seit 1943 mit der Forderung eines autonomen Siziliens hervorgetreten. (Brockhaus 142, 16-18)
Beschäftigte sich van der Steegen mit historischen Studien? Aber auch das half Robin jetzt nicht weiter.
Ein anderes Gebiet, mit dem sich van der Steegen häufig befasst hatte, war die allgemeine politische Lage – charakteristische Begriffe tauchten mit verschiedensten Bezügen immer wieder auf, und es bedurfte einer Untersuchung der semantischen Felder und deren Überschneidungen, um konkrete Interessensbereiche herauszufiltern. Hier musste Robin eine etwas längere Wartezeit in Kauf nehmen, erst danach konnte er sich das Diagramm ansehen, eine Verteilung verschieden großer, einander mehr oder weniger überschneidender Kreise. Robin las:
Internationale Wirtschaftspolitik
Globalisierung im Finanzbereich
Novelle gegen Machtmissbrauch
Gipfeltreffen der Regierungschefs
Verwaltung von Ressourcen
Fusionsprozesse in der Industrie
Rechtsprechung bei Führungskräften
Gehälter und Nebeneinnahmen von Ministern
Diversifikation und Konzentration
Ausbau oligarchischer Systeme
Verhältnismäßig leicht ließen sich aus diesen Stichworten Schlüsse auf die im Hintergrund stehenden Probleme ziehen, insofern waren die Informationen durchaus verwertbar, aber nach Hinweisen auf Angelo suchte Robin vergebens. Eines fiel ihm allerdings auf: Im letzten Jahr schien der Arbeitseifer des Direktors plötzlich erloschen zu sein. Von da an waren nur noch wenige Aufrufe verzeichnet, und außerdem hatten sie ganz andere Themen zum Gegenstand – van der Steegens Interesse richtete sich nun auf die Geschichte der Staatenbünde und Fragen zur politischen Moral.
Robin hatte weder Zeit noch Lust, sich in diese abstrakten Sachgebiete zu vertiefen. Überdies war es sowieso angeraten, sich eher auf verdächtige Personen zu konzentrieren, und dabei insbesondere auf Beziehungen zwischen ihnen.
Da bot sich vor allem Gorosch an, und hier zögerte Robin ein wenig, ehe er sich entschloss, den Namen einzutippen. Schließlich vertraute er aber doch seinem Schutzprogramm, das alle Spuren seiner Tätigkeit verwischen sollte, verbrachte aber trotzdem eine Minute in nur mühsam unterdrückter Unruhe. Dann erschien auf dem Bildschirm lediglich der Hinweis: ZUGRIFF GESPERRT.
Robin war nicht besonders überrascht, es war ja zu erwarten gewesen, dass der Chef des Sicherheitsdienstes den Einblick in alle mit ihm zusammenhängenden Daten unterband. Auffällig war allerdings, dass zu dessen Abschirmung zusätzlich zu den üblichen Routinen einige weitere eingesetzt waren, deren Prinzip Robin nicht ohne weiteres zu erkennen vermochte. Hier war also nichts zu holen.
Hatte es Sinn, auch Angelos Abrufe in die Untersuchung einzubeziehen? Robin versuchte es; was er da fand, lag schon Jahre zurück und ergab lediglich einige Einblicke in Angelos private Interessen, aber nichts, was seine Tätigkeit betraf.
Wen sollte sich Robin noch vornehmen? Kurz kam ihm Michèle in den Sinn, und schon hob er die Hände zur Tastatur – und ließ sie wieder sinken. Sie hatte ja darüber geklagt, dass sie nicht eingeweiht worden war … aber so etwas hindert einen Ermittler normalerweise nicht, der Sache nachzugehen. Zögernd tippte er den Namen ein: Mikaela Bajer. Und dann löschte er ihn wieder …
Was hinderte ihn daran, die übliche Routine einzuhalten? – das war die Frage, die sich ihm unerwartet aufdrängte. Als er über die Gründe für diese unerwartet auftretenden Skrupel nachzudenken begann, musste er sich eingestehen, dass ihn bei ihr ganz andere Dinge interessierten als bei allen anderen Personen: Er wollte mehr über Michèle wissen. Nicht über ihre politischen Ansichten, nicht über ihre Kontakte zu anderen, sondern über das, was sie tat, was sie dachte, was sie sich wünschte … Und paradoxerweise war es genau das, was ihn daran hinderte, diesen Schritt zu tun – in ihren Daten zu stöbern, um mehr zu erfahren, als in ihrem Chip mit dem Hologramm vermerkt war. War es der Vertrauensbruch, vor dem er zurückschreckte? War es die Furcht davor, dass sie trotz aller Schutzmaßnahmen etwas davon erfahren könnte? Nein, gewiss nicht … Er war einfach nicht dazu imstande, schon der Gedanke daran kam ihm vor wie Verrat.