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Donnerstag, 3. April

Während der letzten drei Tage hatte sich Robin ganz seinen Nachforschungen gewidmet – wann immer er Zeit dafür erübrigen konnte –, doch was er da in Erfahrung gebracht hatte, war aufschlussreich, aber nicht gerade überwältigend. So hatte er nun eine Menge von dem gelesen, was die von ihm angezapften Informationsquellen zu bieten hatten, und war in seinem Verdacht bestärkt worden, dass es um brisante Fragen der Weltpolitik ging. Noch nie zuvor war er über die globale Situation so gut informiert gewesen. Er hatte erkannt, dass es gar nicht die in den Zeitungen und Fernsehsendungen immer wieder kolportierten Themen waren, die die Zukunft bestimmten. Abseits von den Tagesereignissen zeichnete sich eine Entwicklung ab, die erstmalig zu einer in Utopien oft beschworenen Weltregierung führen könnte. Dabei standen mächtige Interessenverbände in Konkurrenz zueinander, und jeder setzte alle seine Machtmittel ein, um das System nach eigenen Wünschen zurechtzubiegen. Und dabei war noch nicht einmal klar, wer hinter dieser oder jener Gruppe steckte.

Auf der einen Seite vollzog sich das Spiel auf höchstem internationalem Parkett, auf der anderen Seite bestimmte es das Schicksal einzelner Figuren, denen in dieser Auseinandersetzung widersprüchlicher Kräfte spezielle Rollen zugedacht waren.

Das war die wenig beachtete persönliche Ebene – jene, für die sich Robin interessierte –, und es erwies sich als außerordentlich schwer, die Verbindungen zwischen diesen auseinander klaffenden Teilen zu finden.

Welche Möglichkeiten bestanden für einen Einzelkämpfer, Licht in diesen abgeschotteten Zwischenbereich zu bringen? Robin ließ sich einige Möglichkeiten durch den Kopf gehen und versuchte die Chancen auszuloten, die sich ihm da boten.

Schließlich erinnerte er sich an die von Michèle erwähnten Machtkämpfe zwischen den alten Schutztruppen und dem neueren Sicherheitsdienst, der international organisierten Security. Das bezog sich auf Ereignisse, die sich in unmittelbarer Umgebung abspielten, dort, wo er sich auskannte und freien Zutritt hatte. Und nach den Andeutungen des Direktors sollten sich in dieser lokalen Auseinandersetzung die divergierenden Ziele spiegeln, um die es auch in der großen Welt ging. Auf einmal hatte er von der langwierigen Schreibtischarbeit genug. Es wäre einen Versuch wert, den Hebel an ganz anderer Stelle anzusetzen.

Merkwürdig, wie sich der Ort der Ermittlungen immer mehr von der realen Welt auf die Datenwelt verlagerte. Früher war Robin noch hin und wieder auf Dienstreisen gewesen, hatte Schauplätze von Verbrechen besucht und mit Zeugen gesprochen. Und selbst jetzt, als er sich um etwas zu kümmern beabsichtigte, was sich innerhalb seines Bürogebäudes abspielte, begann die Ermittlung auf dem Bürostuhl, vor dem Bildschirm, anhand von Daten, die er aus verschiedensten mehr oder weniger leicht zugänglichen Speichern holte.

Er fragte sich, ob diese Praxis nicht der Bequemlichkeit entsprang und ob sie nicht dazu führte, dass man einfachste Möglichkeiten der Ermittlung übersah, weil sie den Ermittler zu ungewohnten körperlichen Aktivitäten abseits seines Daten-Sets gezwungen hätten – Risiken, die man lieber vermied. Diese Überlegung war wohl der Anstoß für Robin, einen etwas verwegenen Plan zu entwickeln, der eher ein Experiment war als die übliche Suche im Netz.

Er war vorsichtig genug, sich zuerst noch einmal zwei Stunden lang seinem aktuellen Auftrag zu widmen – vielleicht würde er später nachzuweisen haben, was er getan und wo er sich aufgehalten hatte. Dann, während er den Rechner auf die sukzessive Analyse der Seiten eines Dokuments gestellt hatte, verließ er seinen Raum möglichst unauffällig. Er empfand richtig Lust dabei, seinem Arbeitssessel endlich einmal zu entrinnen und real eingreifen zu können. Es war eine Inszenierung, ein Spiel, und wenn es ihm gelang, dann würden die Beteiligten die Art ihrer Beziehung freiwillig offenbaren.

Sein Weg führte Robin zum nächstgelegenen Rot-Kreuz-Center – ein kleiner Raum in der Nähe der Besenkammern und Toiletten von den Ausmaßen eines begehbaren Wandschranks.

Er öffnete den Kasten mit Medikamenten und Verbandszeug. Auch Gummihandschuhe lagen griffbereit da. Er holte ein Paar aus der Verpackung und streifte es über. Dann griff er nach einer dicken Mullbinde, entrollte sie und wickelte sie zu einem Knäuel zusammen. Aus verschiedenen Fläschchen, die er den Regalfächern entnahm, ließ er etwas von den darin enthaltenen Tinkturen darauf tropfen, bis sich ein feuchter Ball gebildet hatte. Anschließend suchte er nach einer Flasche mit Alkohol, von dem er reichlich darübergoss. Dann nahm er die größte der Scheren an sich, die in einer Klemmleiste an der Seitenwand steckten.

Ehe er den Verschlag verließ, vergewisserte er sich, dass der Gang draußen leer war … er hörte leise Stimmen, die rasch lauter wurden. Schnell zog er sich in die Kabine zurück und war bereit, das unappetitliche Knäuel, das aus der Mullbinde geworden war, im Abfalleimer verschwinden zu lassen … Doch die Stimmen wurden leiser und verschwanden.

Ein neuer Versuch, unbeobachtet in den Gang zurückzukommen … diesmal ließ sich niemand blicken. Es waren nur ein paar Schritte bis zur Garderobe, für die jeder Mitarbeiter ein Schließfach besaß. Sie war jetzt, während der Dienstzeit, leer. Robin wählte für seinen Plan ein beliebiges der Fächer. Dann holte er die Schere aus der Innentasche seines Overalls; er ließ sie geschlossen und zwängte die Spitze in den Spalt zwischen dem Deckel und dem Boden. Ein Ruck, und das Fach sprang auf. Darin befanden sich nur ein T-Shirt und ein Paar Schuhe. Ähnlich verfuhr Robin mit zwei benachbarten Fächern. Der Besitzer würde den Verlust des alten Mantels, der dort aufbewahrt wurde, verschmerzen können – ebenso wie ein Bündel dort deponierter Papiere: Wie er sich mit einem Blick überzeugte, betrafen sie nur längst überholte Anweisungen für die Entsorgung von Getränkebechern.

Robin war vorsichtig genug, noch einmal nachzusehen, ob die Luft immer noch rein war. Dann zerschnitt er das mit dem Lösungsgemisch getränkte Bündel in drei Teile und legte je eines in jedes der Fächer. Mit einem Feuerzeug zündete er sie an. Der Alkohol geriet rasch in Brand, Robin hielt die Papiere in die Flammen und warf, als sich ein munter flackerndes Feuerchen zu entwickeln begann, noch den Mantel darüber. Zuletzt zog er die Handschuhe aus und warf auch sie in die Flammen.

Jetzt kam es darauf an, möglichst rasch und ungesehen zu verschwinden. Er hatte Glück, es war niemand da, der ihn beobachten konnte. Noch ein paar Schritte zu seinem Büroraum. Zufrieden setzte er sich ans Pult und sah zu, wie auf dem Bildschirm die Seiten mit Texten und Diagrammen erschienen und wieder verschwanden. Das war sein Alibi: Für den Fall, dass er verdächtigt wurde, konnte er beweisen, dass er an der Logikeinheit gearbeitet hatte. In Wirklichkeit wartete er aber ungeduldig auf den Alarm, der nun eigentlich rasch ausgelöst werden sollte.

Als die Sirene endlich ihr enervierendes Geheul anstimmte, blieb Robin im Gegensatz zu seinen Kollegen völlig ruhig. Er empfand keine Angst – nur Befriedigung. Das lag natürlich in erster Linie daran, dass sich sein Plan genau wie vorgesehen zu verwirklichen schien, aber es kam noch etwas hinzu: Es war das erste Mal gewesen, dass er bewusst gegen die Gesetze seiner Dienststelle gehandelt hatte. Bei seiner Arbeit hatte er zwar oft genug Eigeninitiative entwickelt, aber eben nur in dem ihm zugewiesenen beschränkten Handlungsfeld.

Robin trat an die Tür, um zu beobachten, was draußen geschah, und auch die Kollegen aus der Nachbarschaft erschienen an den Türen ihrer Arbeitsräume.

Die Sirene war inzwischen verstummt, und eine Lautsprecherstimme meldete sich mit Anweisungen und Mitteilungen. Da war von einem kleinen Brandherd die Rede, der bald gelöscht sein würde. Es gäbe keinen Grund zur Flucht, und die Benutzung der Aufzüge sei verboten. Die Mitarbeiter sollten auf ihren Plätzen bleiben.