Robin versuchte es mit einer milden Provokation: »Und das stimmt nicht?«
Es war nicht zu verkennen, dass Timo diese Andeutung unangenehm war. »Was glaubst du! Wir hatten ein kriminalistisches Dezernat, das bestens ausgerüstet war – übrigens unter der Leitung von Josz. Es wurde damals sang- und klanglos aufgelöst. Nein, nein –«, er beugte sich näher zu Robin und dämpfte die Stimme. »Es steckt etwas ganz anderes dahinter: Es geht um die Globalisierung der Polizei.«
»Davon habe ich ja noch nie gehört«, gab Robin vor.
»Das hängt mit der WU zusammen. Behörden, Industrien, Verkehr usw. alles wird vereinheitlicht. Und das ist ja auch in Ordnung.«
»Und was ist nicht in Ordnung?«
Timo rückte etwas näher an Robin heran und sah sich verstohlen um, ehe er sprach. »Einiges läuft ganz anders, als es sein sollte. Man weiß nicht, wer dahintersteckt, aber es gibt Gerüchte …«
»Ich dachte, das wäre Sache der Regierungen«, warf Robin ein, als Timo zu überlegen schien, ob er mehr darüber sagen sollte.
»Haben die Regierungen noch die Macht, ihre Pläne so durchzusetzen, wie sie es für richtig halten? Es gibt internationale Konzerne, Banken, Gruppierungen von Fernsehen und Presse, die im Hintergrund mitmischen. Sie wollen sich ihre Kontrolle sichern. Aber man weiß nicht, wer genau dahintersteckt. Oder man fürchtet sich davor, es auszusprechen. Ich kann mir nicht vorstellen …«
Timo war mitten im Satz verstummt. Robin blickte ihn erstaunt an und stellte fest, dass der andere verstohlen zum Eingang starrte. Dort stand ein schlanker Mann, unscheinbar, unbeweglich, und es machte nicht den Eindruck, als ob er eintreten wollte.
Timo legte Robin die Hand fast schmerzhaft auf den Arm. »Verzeih, ich muss gehen«, sagte er. Er stand auf, legte eine 10-Credit-Münze auf den Tisch und trottete gesenkten Hauptes zum Eingang. Nachdem er an dem schweigenden Besucher vorbeigegangen war, wartete dieser noch kurz, dann drehte er sich um und verließ ebenfalls das Lokal.
Wieder waren ein paar Tage vergangen, in denen Robin seinem Ziel, etwas über Angelo zu erfahren, nicht näher gekommen war. Immerhin – was Timo erzählt hatte, bestätigte den Verdacht, dass die Auseinandersetzungen zwischen dem alten Werkschutz und den neu eingeführten militanten Sicherheitskräften etwas mit den Entwicklungen in der Welt zu tun haben könnten. Aber ob das alles in direktem Zusammenhang mit Angelo stand, blieb nach wie vor offen.
Was konnte Robin tun, um in dieser Richtung vorwärtszukommen? Direkte Recherchen zu Angelos Person kamen nicht in Betracht – das verboten schon die Erfahrungen, die er in den letzten Tagen gemacht hatte. Also musste er seine Aktionen irgendwie verschleiern, und nach einigem Nachdenken hatte er eine Idee. Er würde der Erkenntnis folgen, dass sich ein Ding unter seinesgleichen leicht verbergen ließ.
Er zog das Mikrophon seines ComSets heran und begann zu diktieren:
An den Internationalen Gerichtshof. Dezernat für Anklage/Aufnahme
Durch Zufall bin ich auf einen Betrugsfall gestoßen, der Ihre Behörde selbst betrifft. Es handelt sich um gefälschte Reisekostenabrechnungen, wobei von der einreichenden Seite zu hohe Spesen verlangt und diese von der verantwortlichen Rechnungsstelle widerrechtlich akzeptiert wurden, obwohl eine einfache Nachprüfung die Unwahrheit der Angaben ans Tageslicht gebracht hätte. Der dadurch erschwindelte Mehrbetrag wurde von beiden Tätern geteilt. Mir ist die Problematik anonymer Anklagen sehr wohl bekannt, doch da ich selbst am Internationalen Gerichtshof tätig bin, kann ich meine Identität verständlicherweise nicht preisgeben; andernfalls würde ich das Arbeitsklima schädigen, was ich nicht in Kauf nehmen will und darf. Da es mir andererseits ein Anliegen ist, das im Hause übliche Geschäftsgebaren vor allen illegalen Unregelmäßigkeiten zu bewahren, die dem Ruf des Hauses abträglich wären, muss ich den unerwünschten Umstand der Anonymität in Kauf nehmen. Ich bitte darum, meine Eingabe als offizielle Anklage zu akzeptieren und die üblicherweise daraufhin angezeigten Bearbeitungen einzuleiten.
N.N.
Robin wusste natürlich sehr genau, was auf dieses Schreiben hin erfolgen würde. Eine solche Einreichung war der offizielle Weg, um den Internationalen Gerichtshof zum Eingreifen zu veranlassen. Gewiss war die Anonymität des Anklagenden ein Schönheitsfehler, doch wie er aus beispielhaften Fällen wusste, musste trotzdem gehandelt werden, wenn Vorgänge in der Behörde selbst Gegenstand des Vorgangs waren.
Jetzt waren noch einige Vorkehrungen nötig, vor allem musste er dafür sorgen, dass dieser Brief zunächst an einer Stelle zwischengelagert wurde, an der seine Herkunft nicht erkennbar war, und dann auf ein Zeichen hin ohne Verzögerung an den Adressaten geleitet wurde. Das war nicht weiter schwierig.
Nun konnte er sich wieder seinen anderen Aufgaben zuwenden, was sich von Zeit zu Zeit nicht vermeiden ließ, doch sooft er an seinen Plan dachte, freute er sich an der erheiternden Vorstellung, welche Aufregung er damit bei jenen auslösen würde, die sich betroffen fühlten.
Am nächsten Tag widmete er sich wieder einmal seinem ihm offiziell übertragenen Fall. Er stand damit kurz vor dem Abschluss und hatte jede Chance, ihn in Kürze abzuschließen, doch das brauchte er Raymond, dem Büroleiter, ja nicht sofort zu verraten. So würde er Zeit gewinnen, um weiter seinen eigenen Problemen nachzugehen.
Zunächst ging es darum, ob das System Platon noch ein Haar in der Suppe fand oder der Meinung war, dass die vorgelegten Daten zur Fortführung des Vorgangs ausreichten. Das war Voraussetzung dafür, die logisch-deduktiven Prozesse einzuleiten, die zu Entscheidungen über Unschuld oder Schuld des bzw. der Angeklagten führten mussten. Daraus leitete das Programm die Konsequenzen ab – vor allem die Art der Strafe oder Sicherheitsverwahrung oder auch die Empfehlung medizinischer Eingriffe zur Verhinderung späterer Straftaten.
Am frühen Nachmittag war es dann so weit. Er hatte Glück, das AI-System war mit den Unterlagen zufrieden, und das hieß, dass Robin für eine neue Aufgabe ausgewiesen war. Er überzeugte sich davon, dass nicht noch jemand anderer vor ihm auf der Warteliste stand; so durfte er sicher sein, nun selbst mit der Bearbeitung der anonymen Anklage betraut zu werden, da ein die eigene Behörde betreffender Fall Priorität vor allen anderen hatte.
Nun zögerte Robin nicht mehr, das Zeichen zum Absenden des von ihm vorbereiteten Briefs zu geben, und es dauerte tatsächlich nur zehn Minuten, bis der Gong ertönte, der die Zuteilung einer neuen Aufgabe ankündigte.
Tatsächlich: Die Automatik hatte dem von ihm erfundenen Fall die Prioritätsstufe 2 zugeteilt. Das hatte den zusätzlichen Vorteil, dass Robin einen Referendar hinzuziehen durfte, und er schickte auch gleich die Anforderung hinaus. Natürlich wäre Robin auch allein zurechtgekommen, aber es konnte nicht schaden, einen Mitarbeiter zu haben, dem man heikle Aufgaben übertragen konnte, oder genauer: Aufgaben, die sich unter den gegebenen Umständen für Robin als heikel erweisen konnten.
Ein wenig musste er sich noch in Geduld fassen, denn die Hilfskraft war erst für den nächsten Tag bewilligt worden. Robin beschloss, sich inzwischen die neuesten Meldungen über die politische Lage vorzunehmen – eine Thematik, die ihn bisher wenig interessiert hatte, der er sich aber seit Neuestem mit voller Aufmerksamkeit zuwandte. Zuvor aber wollte er versuchen, sich mit Timo in Verbindung zu setzen.
Das Erlebnis am vorigen Abend hatte ihm zu denken gegeben. Schon während ihrer Unterhaltung war nicht zu übersehen gewesen, dass der Werkschutzbeamte sehr vorsichtig geworden war, als sie auf das Thema der internen Auseinandersetzungen gekommen waren – als rechnete er damit, belauscht zu werden.
Und dann hatte ihm der Unbekannte, der am Eingang aufgetaucht war, offensichtlich einen gewaltigen Schrecken versetzt.