Bis vor kurzem war Robin völlig unbefangen gewesen, es war ihm nicht in den Sinn gekommen, er könnte von irgendjemandem belauscht, abgehört oder verfolgt werden. Seit sich der Sicherheitsdienst für ihn interessierte, hatte sich das geändert. Zunächst war er noch bei seiner Meinung geblieben, dass das ein Sonderfall war: die Folge seines Versuchs, Kontakt mit Angelo aufzunehmen. Doch inzwischen verhärtete sich in ihm der Argwohn, dass solche Überwachungsmaßnahmen gar nicht so ungewöhnlich waren und vielleicht sogar zu den Routinemaßnahmen des Betriebs gehörten.
So suchte Robin das Foyer auf, wo einige ComSets zur allgemeinen Benutzung herumstanden, trat aus dem Blickfeld der Kamera heraus und wählte Timos Nummer. Kurz darauf meldete sich jemand: »Werkschutz, Abteilung C3.« Es war Timos Stimme, der mit abgewandtem Kopf vor der Kamera saß und nur undeutlich zu erkennen war.
Auch Robin vermied es, seinen Namen zu nennen. »Hallo, ich wollte mich nur erkundigen, wie es dir geht.«
Einen Augenblick lang war es still, dann kam die Antwort: »Tut mir leid: falsch verbunden.«
Robin war sicher, dass Timo selbst am ComSet gewesen war und ihn erkannt hatte. Der Bildschirm war finster geworden, und Robin blickte noch kurze Zeit auf die leere grausilberne Fläche. Nachdenklich erhob er sich vom Hocker und schlug den Weg zurück in sein Büro ein.
Als Robin am nächsten Morgen seinen Arbeitsraum betrat, wartete dort eine junge Frau. »Ich bin die Referendarin«, sagte sie. Sie trug den einheitlichen Arbeitsmantel, der offen stand und ihr modisches, mit Goldfäden durchwirktes Kleid nur halb verbarg. Sie sah gut aus – das Gesicht vielleicht eine Spur zu breit, was sie aber durch das seitlich in Flechten übergehende schwarze Haar ausgeglichen hatte. »Ich heiße Fay McCain.« Sie legte ihre I-Card auf den Tisch.
»Okay, ich bin Robin Landt. Wir werden zusammen einen Fall bearbeiten. Am besten, du siehst dir zunächst einmal die Unterlagen an.«
Robin befreite den Ablagetisch von bedrucktem Papier, Schachteln und Kassetten, die sich dort angesammelt hatten, und brachte einen Laptop heran, den er über Intranet mit seinem Computer verband. Er schob den Besucherstuhl heran. »Ein wenig eng hier«, sagte er entschuldigend.
»Das macht mir nichts aus«, antwortete Fay. »Ist es dir recht, wenn ich Kaffee hole?«
»Wir machen später eine Pause.« Robin wollte keine Zeit versäumen. Er übertrug die den neuen Fall betreffenden Daten auf Fays Rechner und blieb dann neben ihr stehen, als Aufforderung, mit der Arbeit zu beginnen. Fay zog eine Grimasse, doch dann rief sie geschickt die Daten auf und begann, die Inhaltsangabe zu studieren.
Bevor die richtige Ermittlungsarbeit beginnen konnte, waren eine Menge Vorbereitungen nötig, darunter vor allem solche, die den Datenschutz überwinden sollten; und auch in Fällen, die den eigenen Betrieb betrafen, war es schwer, die Genehmigung zur Einsicht in die Akten zu bekommen. So waren Robin und Fay den ganzen Vormittag damit beschäftigt, formale Hindernisse zu überwinden. Zwischendurch genehmigten sie sich die angekündigte Pause, wobei sich Robin ein wenig mit Fay unterhielt; sie machte einen klugen und wachen Eindruck.
Erst am Nachmittag war es so weit, dass sie mit der eigentlichen Arbeit beginnen konnten. Robin fragte Fay, wie sie nun vorgehen würde – er wollte herausfinden, ob sie gewohnt war, selbständig zu arbeiten.
»Ein schwieriges Problem«, meinte sie. »Ich denke, wir sollten zuerst nach Verdachtsmomenten suchen: Wer hat sich schon früher etwas zuschulden kommen lassen? Gibt es ähnliche Fälle, bei denen es nicht gelang, genügend Material für die Beweisführung zu finden? Am besten, wir nehmen uns auch die genetischen Profile vor. Die Leute wurden zwar alle analysiert, damals, bevor sie eingestellt wurden, aber vielleicht hat man etwas übersehen.«
Das hörte sich logisch an und mochte vielleicht sogar der vernünftigste Weg zum Ziel sein, aber Robin kam es ja nicht auf komplizierte Beweisführungen, sondern auf die Begleitdaten an. »Ich würde anders vorgehen: Prinzipiell sind alle verdächtig, die Reisekosten abrechnen müssen. Ich schlage vor, wir fangen bei den eingereichten Rechnungen an und prüfen, ob die eingetragenen Beträge den Vorschriften entsprechen.«
Fay schien nicht überzeugt. »Ist das nicht recht umständlich und zeitraubend? Wenn wir uns zuerst die prinzipiell Verdächtigen vornehmen …«
»Nein«, unterbrach Robin. »Die Abrechnungen müssen nach einem vorgegebenen Schema ausgefüllt werden, die Prüfung lässt sich also uneingeschränkt dem logischen System übertragen – so geht es am schnellsten. Ich bitte dich, das zu veranlassen – vielleicht zunächst für das vergangene Jahr bis zur Gegenwart. Die Erlaubnis zur Prüfung der Abrechnungen haben wir ja eingeholt.«
»Wir brauchen noch eine Bearbeitungsnummer«, erinnerte ihn Fay.
»Richtig. Lass dir eine geben. Und zwar unter deinem Namen. Ich habe dich als Sachbearbeiterin eintragen lassen. So kann ich selbst noch einen zweiten Vorgang eröffnen, und wir kommen schneller voran.«
Robin hatte seine Anweisungen äußerlich ruhig gegeben, aber innerlich wurde er umso aufgeregter, je mehr er sich seinem Ziel näherte. Er musste sich zwingen, sich auf einige noch nicht berücksichtigte bürokratische Formalitäten zu konzentrieren. Im Übrigen hatte sich die Referendarin bislang als kluge und selbständig denkende Kraft erwiesen.
Gegen Abend hatte sie ihre Aufgabe beendet und öffnete für Robin einen viele Megabyte umfassenden Ordner, der in Kurzform den Inhalt aller Reiseabrechnungen der letzten Zeit enthielt.
»Ist etwas Auffälliges dabei?«, fragte Robin.
Fay schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts gefunden.«
»Nun gut, dann danke ich dir. Du kannst für heute Schluss machen.«
Fay zog den Arbeitsmantel aus und strich sich durch die Haare. Es war eine Geste, mit der sie sicher schon manchen Mann gereizt hatte. Auch ihre Figur ließ nichts zu wünschen übrig, und das golden glitzernde Kleid saß eng und faltenfrei am Körper. Robin schaute nur kurz auf, war aber in diesem Moment zu abgelenkt. Er winkte Fay zu, und sie verließ den Raum.
Endlich! Robin setzte sich an den Laptop, wo der Ordner mit den Abrechnungen noch geöffnet war. Er betätigte die Suchtaste, tippte den Buchstuben »B« ein und sprach den Namen »Angelo Brugger« ins Mikrofon. Und schon erschien die früheste Rechnung aus der berücksichtigten Zeit auf dem Bildschirm – es handelte sich um eine Reise nach Boston. Robin brauchte nicht die erste, sondern die letzte Abrechnung, und Sekunden später hatte er sie auf dem Schirm. Natürlich war sie korrekt ausgefüllt, aber worauf es ankam, war ja nicht der Betrag, sondern das Reisezieclass="underline" Es war »Sanssouci«, das Rekreationszentrum für Führungskräfte an der französischen Riviera. Das Datum lag etwa ein Jahr zurück. Und es gab keine Abrechnung für eine Rückreise.
Es war die erste heiße Spur auf Robins Suche nach Angelo. Dieser Erfolg versetzte ihn in euphorische Stimmung. Kurz entschlossen bog er ein Stück vom Nachhauseweg ab, an einer Ecke, wo er an einem guten Esslokal vorbeikam. Er trat ein, suchte einen Single-Tisch auf und bestellte einen üppigen Olivensalat, den er sich schmecken ließ. Erst gegen neun Uhr abends kam er zu Hause an, und noch immer spürte er die Freude über seine gelungene Recherche.
Und als er im Fernsehstuhl saß, ohne ein Programm einzuschalten, drängte sich ihm mehr und mehr der Wunsch auf, Michèle von den jüngsten Erkenntnissen zu berichten. Er hätte sie schon früher gern einmal angerufen, aber er wollte einen Grund dafür haben. Nun hatte er ihn. Dabei ging es nicht nur um die bloße Erfolgsmeldung, sondern auch um weiterführende Fragen. Robin hatte schon von »Sanssouci« gehört, vom überwältigenden Luxus der Anlage, die sich um eine schlossähnliche Villa im Hinterland der Riviera erstreckte, von den vielen Möglichkeiten, dort zu entspannen und neue Kraft zu tanken. Neben den prächtig ausgestatteten Suiten und den vornehmen Restaurants, die eine erlesene Auswahl an Speisen und Getränken anboten, gab es modernste Sportanlagen, dazu Bäder, Sonnenstudios und Räume mit den raffiniertesten Fitnessgeräten und Massageautomaten. Auch für menschliche Betreuung war gesorgt – ein Regiment von Ärzten, Psychologen und Lehrern aus verschiedenen Religionsgemeinschaften und Sekten stand zur Verfügung. Nur die oberste Führungsschicht konnte hoffen, in diese exklusive Anlage eingeladen zu werden – und deshalb war es umso erstaunlicher, dass Angelo dort hinbeordert worden war. Warum? Das war die Frage, die sich nun stellte, und zu ihrer Lösung konnte Michèle vielleicht etwas beitragen, die in ihrer Position jenen Kreisen, die in den begehrten Genuss eines Aufenthalts kamen, viel näher stand als er, Robin.