Eine einfache Situation, weil sich nahezu alles durch automatische Abfragen ermitteln ließ. Robin bekam die Ergebnisse ohne eigenes Zutun auf den Tisch. Er hatte nur wenige Male die Suchmaschinen zu Rate ziehen müssen, und schon waren alle Daten beisammen, um sie der Automatik zu übergeben. Wenn es überhaupt ein Rätsel aufzuklären gab: Der Pilot hatte seine Freundin bei sich gehabt und wollte ihr einen Badeplatz am Stausee zeigen. War er deshalb so tief geflogen? Diesen Umstand musste Robin beschreiben und den Schriftsatz der Akte zufügen. Es lief wohl auf menschliches Versagen hinaus, also würde es einen Schuldspruch geben. Aber damit hatte Robin nichts zu tun, glücklicherweise – für die Feststellung der Schuld war allein das System Platon zuständig, und dieses bestimmte auch die Strafe: schnell, unfehlbar, ohne emotionale Aberrationen und mit absoluter Gerechtigkeit. Der Fall war in den besten Händen.
Damit hatte Robin sein Tagwerk beendet. Er rief noch seine Notizen auf, um zu prüfen, ob er vielleicht etwas vergessen hatte. Es war nichts mehr zu tun, aber er stutzte, als er das Datum las: 26. März. Ein Tag wie jeder andere, aber doch mit einem persönliehen Bezug: An diesem Tag vor zehn Jahren hatte er seine Aufnahme als fester Mitarbeiter des Internationalen Gerichtshofs bestätigt bekommen. Es war der erfolgreiche Abschluss einer vierjährigen Ausbildung, und diese Zeit war alles andere als leicht gewesen: kausale Logik, Ermittlungsmethodik, Rechtsprechung mit AI-Systemen, Suchmaschinenpraxis, das waren die wichtigsten Fächer, aber die Kandidaten waren auch körperlich hart drangenommen worden: Fitnessübungen, Krafttraining, Mutproben, praxisnahes Verhalten im Simulator. Dabei ging es oft an die Grenzen ihrer Reserven. Der 26. März war also wirklich ein Tag der Erleichterung, den zu feiern er berechtigt war.
In den letzten drei Monaten des Unterrichts waren sie in kleineren Gruppen in verschiedene ungewöhnliche Umgebungen gebracht worden, in die Vorstädte von Mexico City, in die Katakomben von Paris, in die Sümpfe des Amazonasdeltas, und sie hatten sich dort mit angemieteten Stuntmen herumgeschlagen, manche von ihnen frühere Söldner: Leute, die keine Gnade kannten und Spaß daran hatten, die unerfahrenen Kandidaten in peinliche Situationen zu bringen.
Von den aus diesen Manövern stammenden Erfahrungen hatte Robin bisher nicht besonders profitiert – genau genommen hatte er dabei auch nicht gerade überragende Leistungen erbracht. Es gab einige, die da weitaus besser abgeschnitten hatten. Sie wurden später in ganz anderer Weise eingesetzt als Robin mit seinem Schreibtischjob, bei dem es eher um logisches Kombinieren ging. In diesen Belangen war Robin gut, und auf dieser Fähigkeit beruhten auch seine erfolgreich abgeschlossenen Ermittlungen. Im Geheimen hätte er sich aber gewünscht, auch zu jenen Typen zu gehören, die man in die Welt hinausschickt.
Robin dachte dabei vor allem an Angelo. Angelo Brugger, den sie den »Engel« nannten. Natürlich leitete sich diese Bezeichnung aus seinem Namen ab, aber sie entsprach auch seinem Aussehen und seinem Wesen. Er war groß gewachsen, trug die leicht gelockten blonden Haare lang und hatte markante Gesichtszüge, die die Mädchen faszinierten. Überdies war er auch noch freundlich und hilfsbereit.
Er war einer der Besten des Lehrgangs gewesen. Das galt sicher für die Theorie, aber ganz besonders auch für die Einsätze im Außenbereich, wo es auf Kraft und Zähigkeit ankam und man sich in Auseinandersetzungen Mann gegen Mann zu bewähren hatte. Hierin war er einsame Spitze, und das wurde auch von allen Teilnehmern anerkannt. Umso ungewöhnlicher war es, dass er sich ein wenig mit dem unauffälligen Robin angefreundet hatte, und so war ein wenig von Angelos Ruhm auf Robin abgefallen.
Wo mochte Angelo jetzt sein? Vielleicht bei einem seiner geheimnisvollen Einsätze? In einem spontanen Entschluss rief Robin Angelos Com-Nummer auf – vielleicht hatte er Glück und konnte ihn dazu überreden, den Jahrestag ihrer Beförderung zusammen zu feiern. Aus dem Lautsprecher ertönte das Besetztzeichen – woraus immerhin zu schließen war, dass sich Angelo an seinem Arbeitsplatz befand.
Robin wartete kurze Zeit und versuchte es ein zweites Mal – mit demselben Ergebnis –, und als er nach zehn Minuten noch einmal anrief, war wieder das Besetztzeichen zu hören.
Eigentlich war Robin bereit zu gehen, aber so rasch wollte er nicht aufgeben, und er stellte die Anrufautomatik auf Wiederholung im Minutentakt. Um sich die Zeit zu vertreiben, rief er die News-Seite aus dem Netz auf, las kurz über die politischen Meldungen hinweg und vertiefte sich dann eine Weile in den Sport. Er hörte, wie die Automatik mehrmals anschlug, und zwar immer wieder vergebens. Auf dem Bildschirm blinkte ein Link-Button, und obwohl das einige Credits kostete, folgte er der Aufforderung und blickte eine Weile in die Life-Übertragung des Schleuderball-Matches vom Nachmittag hinein. Doch schon bald meldete sich in ihm erneut die Ungeduld und störte seine Konzentration. Er zwang sich, die halbe Stunde, die er sich vorgegeben hatte, zu warten, dann schaltete er die Rufanlage ab, dachte kurz nach und wählte eine Nummer, die sich von jener von Angelo nur in der letzten Stelle unterschied; er hoffte, dadurch einen in dessen Nähe untergebrachten Kollegen zu erreichen, und tatsächlich meldete sich jemand.
Robin erkundigte sich, ob Angelo tatsächlich in ein Dauergespräch vertieft war, und der Unbekannte erbot sich, im Nebenraum nachzusehen. Nach kurzer Zeit rief er zurück: »Niemand da. Es muss sich um eine Fehlschaltung handeln, denn das ComSet ist betriebsbereit. Allerdings habe ich Angelo schon lange nicht mehr gesehen.«
Robin bedankte sich, schüttelte den Kopf und meldete sich in der Netzzentrale ab. Da war wohl nichts zu machen. Er zog sich die Träger seines Rucksacks über. Den Mantel klemmte er unter den Arm, in diesem hoch gelegenen Tal war es im März noch kühl, er würde ihn brauchen, wenn er ins Freie kam.
Über einen freitragenden Gang verließ er seinen Büroturm und ging ohne besondere Eile in den ringförmigen Trakt, der das Gebäude der Justizbehörde umschloss. Von hier stieg er in den Lift, der ihn ins Erdgeschoss führte, und dort stellte er sich in eine Reihe von Angestellten, die auf den Zug warteten. Er fand gerade noch einen Platz im nächsten, der hier anhielt, und suchte einen Haltegriff, denn die Fahrt lief auf einem Kreis um das Gebäude herum, und dabei verlor man leicht das Gleichgewicht, wenn man keine freie Rückenstütze gefunden hatte. Drei Minuten später war Robin in der großen Eingangshalle.
Als er durch einen der Sensorrahmen der elektronischen Sperrzone trat, ertönte das Alarmsignal, und zwei maskierte Beamte des Sicherheitsdienstes traten mit erhobenen Schockpistolen auf ihn zu. Der eine entriss ihm Mantel und Tasche, der andere schob ihn in die Ultraschallkabine, wo sich weiche, schwammige Matten von allen Seiten her auf ihn zuschoben und ihn festhielten.
Die Durchleuchtung begann mit einem leisen Klicken, dann drehte sich der als Drehscheibe ausgebildete Boden mit beträchtlicher Geschwindigkeit einmal rundherum. Es hatte nicht mehr als drei Sekunden gedauert, aber Robin blieb noch ein paar Minuten zwischen den Matten eingepresst. Nur der Kopf ragte oben heraus. Als Folge der raschen Rotation hatte ihn ein Schwindelgefühl erfasst, und er glaubte schon, sein Magen würde sich umdrehen. Doch schon durfte Robin die Kabine wieder verlassen. Er wollte einen Blick auf das Ultraschallbild werfen, aber der eine der Beamten, eine Frau, packte ihn wieder am Arm und schob ihn durch eine schmale Tür.
In dem Raum standen nur ein Tisch und zwei an den Breitseiten angeordnete Stühle. An einer Wand befand sich ein großer Spiegel; Robin nahm an, dass es eine halbdurchlässige Scheibe war, durch die man ihn beobachtete.