Gleich morgen würde er sie anrufen – Robin konnte es kaum erwarten. Endlich konnte er ihr den Beweis dafür liefern, dass er durchaus imstande war, an streng geheim gehaltene Informationen zu gelangen. Aber warum bis morgen warten? Er hatte doch ihre I-Plakette, und Robin glaubte sich zu erinnern, dass da auch die private Com-Nummer eingetragen war.
Er kramte die Plakette hervor und setzte sich in den Kontrollstuhl seines Arbeitsplatzes. Er gab die Ziffernfolge ein, und die Wartezeit kam ihm so lang vor, dass er schon abschalten wollte. Doch dann erschien Michèles Gesicht auf seinem Holo-Schirm, und es war ihm, als brauchte er nur die Hand auszustrecken, um sie zu berühren, doch als er es unwillkürlich versuchte, griff er ins Leere.
»Ach, du bist es, Robin. Was gibt es Neues?« Zu Robins Beruhigung schien sie zwar ein wenig erstaunt, aber keineswegs ungehalten.
»Ich habe eine gute Nachricht«, sagte er, und erst als sie ihn aufforderte, sie doch nicht länger warten zu lassen, kamen ihm Bedenken, über das öffentliche Netz von seinen Ermittlungen zu berichten.
Ohne lange zu überlegen, sagte er: »Ich möchte es dir persönlich erzählen. Können wir uns treffen?«
Sie lächelte und sagte: »Wie wäre es im Wintergarten des Kurhauses? Die Palmengruppe liegt ein wenig abseits, da wären wir ungestört.«
Eine Viertelstunde später hatten sie sich auf einer der Bänke unter den Palmen niedergelassen. Die Luft war feucht, und es roch intensiv nach zahllosen fremdartigen Blumen. Das vom Dach ausgehende Lumineszenzlicht hatte sich der späten Stunde entsprechend auf Dämmerung eingestellt. Es sah aus, als wären die Farben der Blüten an den Zweigen der Sträucher von tiefem Schwarz.
Robin kam gleich zum Thema und erzählte ihr, was er herausgefunden hatte.
Als er fertig war, wartete er angespannt auf ihre Reaktion – und war erleichtert, dass sie seine Nachricht hochinteressant fand. »Ich hätte, ehrlich gesagt, nicht damit gerechnet, dass du so rasch etwas herausfinden würdest …«
Von ihrem Lob etwas verlegen, spielte Robin alles ein bisschen herunter. »Es ist nur ein erster Anhaltspunkt, aber dahinter stecken viele weitere Fragen: Was hatte er dort zu tun? – denn von seinem Rang her stand ihm eine der für die höchsten Kreise vorgesehenen Kuren trotz seiner Verdienste sicher nicht zu. Wie lange blieb er dort? Wann ist er abgereist und wohin? Und warum ist das in den Akten nicht verzeichnet? Hast du eine Ahnung, wie wir da weiterkommen können?«
Michèle schien zu überlegen. »Ich war einmal dort, in ›Sanssouci‹«, berichtete sie. »Im vergangenen Sommer.«
Robin glaubte, nicht recht gehört zu haben. »Du warst dort …?«
»Nicht zur Erholung, es war eine Dienstreise. Jan van der Steegen hatte dort zu tun und hat mich mitgenommen. Er hat sich mit einigen Leuten der Führungsriege getroffen, aber die Geschäfte von dort aus weitergeführt. Und er hat bei dieser Gelegenheit eine Refreshment-Kur gemacht.«
Robin beobachtete, wie sich ein großer Schmetterling mit phantastisch geformten Flügeln auf Michèles Knie niederließ. Sie schien ihre ganze Aufmerksamkeit dem Falter zu widmen.
Nach einer Weile kam Robin auf seine Frage zurück: »Was also sollen wir tun?«
»Angelos Aufenthalt in ›Sanssouci‹ gibt mir zu denken. Vielleicht ist das der Schlüssel zu dem, was mit ihm geschehen ist. Ich werde versuchen, etwas über die Hintergründe zu erfahren.« Sie blickte nachdenklich vor sich hin und fuhr dann fort: »Ich überlege gerade, ob es eine Möglichkeit für mich gibt, noch einmal dorthin zu kommen … – um mich nach Angelo zu erkundigen. Er war sicher kein gewöhnlicher Gast, und wenn sein Aufenthalt dort einen besonderen Grund hatte, dann wird sich sicher noch jemand an ihn erinnern – obwohl es schon über ein Jahr her ist.«
Robin stimmte zu. Sie blieben noch eine Weile schweigend sitzen. Diese Oase tropischer Wärme und Abgeschiedenheit inmitten der selbst in den Sommernächten stets kühlen Bergstadt rief eine merkwürdige Stimmung hervor, die etwas Unwirkliches an sich hatte. Robin hätte sich gewünscht, dass dieser Abend nicht zu Ende ging.
Auch Michèle schien es nicht eilig zu haben, doch als der Klang einer Glocke der nahe gelegenen historischen Kirche Mitternacht anzeigte, stand sie auf. »Es ist spät.«
Als sie sich die Hand zum Abschied reichten, empfand Robin das als symbolische Bekräftigung dafür, dass sie von nun an durch eine gemeinsame Aufgabe miteinander verbunden waren.
Urgewalten des Orkans
Ich weiß nicht, was mich am nächsten Morgen geweckt hat, denn ich war noch sehr verschlafen. Irgendetwas Ungewöhnliches war geschehen, doch ich brauchte eine Weile, ehe ich wusste, was es war: Es war ganz still geworden, das Rauschen des Windes verstummt, nicht der geringste Luftzug zu spüren, als ich einen Arm aus den Hüllen schälte und vorstreckte. Und da merkte ich noch etwas anderes: Es war angenehm warm.
Es erschien mir als gute Voraussetzung, den neuen Tag zu beginnen. Ich kroch hinaus und zog mir den Anzug über – aber bei dieser Temperatur wäre das nicht nötig gewesen. Ich fürchtete, dass es mir unangenehm warm werden könnte. So kam ich auf die Idee, mich vorher ein wenig zu erfrischen. Ich schabte lockeren Schnee zusammen und rieb mir das Gesicht damit ab – ein notdürftiger Ersatz für die Waschung, die ich nötig gehabt hätte.
Während ich frühstückte, sah ich mich um. Der Boden in meiner Umgebung war nass, das Eis im Schmelzen begriffen. Da und dort hatten sich bereits Lachen gebildet. Die Farbe des Himmels spielte ins Gelbliche, gegen Süden hatten sich Wolken angesammelt, die ihre Formen rasch änderten und phantastische Figuren bildeten. Dieses Schauspiel sah ein wenig bedrohlich aus, doch das konnte mich nicht schrecken, es fand in weiter Entfernung statt. Und ein Blick auf das Display meines Ortungssystems hatte mir gezeigt, dass ich meinem Ziel schon recht nahe gekommen war. Wenn alles gut ging, könnte ich es morgen oder übermorgen erreichen.
Trotzdem hatte ich keine Zeit zu verschenken. Ich mischte mir einen kleinen Vorrat an MinMix-Lösung, packte meine Sachen zusammen und brach auf.
Zunächst einmal war ich recht zufrieden, mit den Unannehmlichkeiten des Vortags war ich gut fertig geworden, und der neue Tag versprach angenehm zu werden. Das Wetter war geradezu frühlingshaft – so hatte ich es hier nicht erwartet. Aber auch hier schienen sich die Folgen der allgemeinen Klimaerwärmung zu zeigen. Hauptsache, ich kam gut voran.
In meinem Blickfeld lag die Wolkenmasse, die jetzt schwer und kompakt aussah. Sie hatte sich vergrößert und eine dunkle Farbe angenommen. Türme wuchsen nach oben in den Himmel hinein, an der Unterseite hingen silberne Schleier. Jetzt kam auch wieder Wind auf, aber es war ein warmer Wind – fast schon unangenehm warm, weil er mich ins Schwitzen brachte, doch das schien mir immer noch angenehmer, als zu frieren.
In mir regten sich Bedenken – sollte sich da ein Unwetter zusammenbrauen? Doch ich ging darüber hinweg und versuchte nur, mein Tempo etwas zu beschleunigen.