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»Lass sehen«, bat Michèle. Robin rollte die eng zusammengedrehten Papierblätter auf und reichte sie ihr.

»Hoffentlich kannst du damit etwas anfangen«, sagte er missmutig. »Ich kann es nicht lesen, es ist in Handschrift geschrieben.« Robin vermochte seine Enttäuschung nicht zu verbergen, doch als er einen Hoffnungsschimmer im Gesicht Michèles bemerkte, sah er ihr interessiert zu.

Michèle warf einen Blick auf die Schrift. »Ich glaube, dass ich das entziffern kann«, sagte sie. »Ich habe einmal einen Schreibkurs mitgemacht. Auf Anregung von van der Steegen – damit ich seine Notizen lesen kann. Er hat das Schreiben noch in der Schule gelernt. Ich bin nicht gut damit zurechtgekommen, aber vermutlich reicht es, um herausfinden, worum es hier geht.«

»Großartig«, sagte Robin. »Dann nimm du es an dich. Wirst du mir sagen, was darin steht?«

Da trat Michèle auf ihn zu und küsste ihn auf die Wange. »Aber natürlich, du erfährst alles«, flüsterte sie ihm ins Ohr. Es war ihrer beider Geheimnis.

Dienstag, 15. April

Die Durchsuchung von Angelos Wohnung lag nun schon mehrere Tage zurück, Michèle hatte einige Male kurz mit Robin telefoniert, mit ihrer Entzifferung von Angelos Denkschrift kam sie nur langsam voran, aber schließlich kündigte sie an, dass sie vermutlich am nächsten Wochenende bereit sein würde, Robin ihre Erkenntnisse vorzulegen.

»Von einer Lösung der Probleme kann noch keine Rede sein«, sagte sie, »aber meiner Meinung nach haben wir trotzdem einen beachtlichen Fortschritt erzielt.« Damit stellte sie Robins Geduld auf eine harte Probe.

Und nun hatte sie Robin in ihre Wohnung eingeladen. Sie lag in einem teuren Viertel, stattliche Häuser inmitten von Gärten, die meisten durch hohe Gitter von der Außenwelt getrennt. Das Haus lag etwas abseits vom Zentrum, jenseits der Brücke, die über das Bett eines derzeit recht bescheidenen Wasserlaufs führte. Während der Schneeschmelze konnte er allerdings zu einem mächtigen Fluss anschwellen.

Robin brachte ihr Blumen mit. Er wusste, dass das altmodisch war, und bei seinen bisherigen wenigen Frauenbekanntschaften wäre ihm das auch niemals eingefallen. Er war aber überzeugt davon, dass sich Michèle über die orange und gelb gesprenkelten Rosen freuen würde, und offensichtlich hatte er Recht gehabt.

Die Wohnung war beträchtlich luxuriöser als jene von Robin, sie enthielt mehrere Aufenthaltsräume, einige etwas altmodisch, andere modern eingerichtet, und in jedem gab es etwas Besonderes zu bewundern: Vitrinen mit antikem Silber, eine aus Leuchtstoffröhren zusammengesetzte Skulptur, die von ständig wechselndem, farbigem Licht durchflutet war, und eine holographische Bildwand mit zugehöriger Echtklanganlage. Beeindruckend war auch die vollautomatische Küche in einer Ausstattung, die einem Feinschmeckerlokal zur Ehre gereicht hätte.

Michèle hatte einen Imbiss mit verschiedenen Leckerbissen vorbereitet. Sie setzte sich neben Robin auf die Couch, von wo sie einen schönen Blick hinüber zu den Bergen hatten. Vor ihnen, auf dem Glastisch, lagen einige bedruckte Papierbögen und die nun sorgfältig geglätteten Blätter mit Angelos Aufzeichnungen. Damit kamen sie endlich zum Thema.

»Hast du die Schrift entziffern können?«, fragte Robin.

»Er muss das in höchster Eile geschrieben haben, deshalb waren die Buchstaben nicht leicht zu erschließen. Es hat mich einige Zeit gekostet. Aber nach und nach kam ich immer besser zurecht, und hier ist das Ergebnis.« Michèle wies auf die bedruckten Blätter.

»Was hast du herausgefunden? Gibt es irgendeine Erklärung für diesen geheimnisvollen Auftrag, den er übernehmen sollte?«

Michèle zögerte mit der Antwort. »Der Auftrag ist nicht erwähnt. Jedenfalls nicht direkt. Aber offenbar hat er versucht, den Grund dafür zu beschreiben – die Situation, die Maßnahmen besonderer Art erforderte. Und zu diesen Maßnahmen scheint eben sein Auftrag zu gehören.«

»Und für wen hat er das geschrieben?«

»Das ist ja das Merkwürdige daran: Es ist eine Nachricht an ihn selbst.«

Robin war anzumerken, dass er nicht verstanden hatte.

»Ich habe auch keine Erklärung«, gestand Michèle, »aber es gibt eine Andeutung, dass Angelo etwas festhalten wollte, was seine Handlungsweise erklärt. Vielleicht als eine Art Rechtfertigung.«

»Seltsam«, sagte Robin, und noch immer begriff er nicht so recht. »Wofür sollte sich Angelo rechtfertigen müssen?«

»Ich denke, es ist am besten, wenn du dir meinen Ausdruck durchliest«, schlug Michèle vor. »Es hat wenig Sinn, vorher darüber zu diskutieren.«

Und Robin begann zu lesen:

In den letzten Wochen hat man mich über Aspekte der politischen Situation aufgeklärt, die nicht an die Öffentlichkeit gelangen dürfen. Diese Informationen brauche ich, um meinen Sonderauftrag, für den ich ausgewählt wurde, zu planen. So wie sich die Dinge entwickeln, geht es dabei um ein Projekt, das unter besonderer Geheimhaltung steht. Die Vorsichtsmaßnahmen, die dabei nötig sind, sind umfassender als alles, was ich in dieser Beziehung bisher kennen gelernt habe. Einiges davon erscheint mir stark übertrieben, aber offenbar gibt es da Umstände, über die man mich nicht informieren will oder kann. Man hat aber mehrfach betont, dass diese Mission von allerhöchster Bedeutung sei.

Bisher liegt der Plan erst in groben Umrissen vor, aber es sieht so aus, als ob meine eigenen Kenntnisse unter bestimmten Umständen zu einer Gefahrenquelle werden könnten, die die Durchführung infrage stellen würde. Einiges von dem, was ich in letzter Zeit erfahren habe, wird man also aus meinem Gedächtnis löschen müssen, bevor mein Einsatz beginnt. Und das ist der Grund für diese Aufzeichnungen. Sie sind nur für mich bestimmt, niemand anderer darf davon etwas wissen. Aber mir selbst steht wohl das Recht zu, zu erfahren, warum ich getan haben werde, was dann schon Vergangenheit sein wird.

Das also sind die Hintergründe meines Einsatzes:

Äußerlich scheint die weltpolitische Lage in Ordnung: Die EU wurde zu einer weltumspannenden Gemeinschaft (WU) erweitert – gemeinsame Währung, gemeinsame Gesetze, gemeinsame Gerichtsbarkeit, Aufhebung der Ländergrenzen und eine für alle übergeordneten Belange verantwortliche Weltregierung. Diese Maßnahmen richten sich nach dem allgemein anerkannten Prinzip der Globalisierung. Es gibt aber auch konservative Kräfte, die sich dagegen wehren, und das vor allem in den Landesregierungen, die ihre Kompetenzen nicht verlieren möchten. Das hat in einigen Bereichen, die sich der Globalisierung bisher entzogen haben, zu Unruhen geführt. Einer der Gründe dafür ist in der Wirtschaftspolitik zu suchen: unausgewogene Finanzpläne, als Wahlgeschenke eingegangene Verpflichtungen, dilettantische Steuerpolitik, immer stärkere Tendenzen zu Verschuldung und Bankrott. Dadurch verlagert sich die Macht in den Ländern immer nachhaltiger auf Banken und Industrieverbände, ohne deren Zustimmung keine politischen Entscheidungen mehr möglich sind.

Als Folge davon verstärkt sich der Trend zur industriellen Globalisierung. Alle bedeutenden Unternehmen wurden in Wirtschaftsimperien integriert, die nicht mehr lokal gebunden sind. Im Rahmen dieser internationalen Verflechtung kommt es erneut zu einer entscheidenden Verschiebung der Machtverhältnisse. So wiederholt sich nun in globalem Maßstab, was schon früher zur Entmachtung der Länderregierungen geführt hat. Die wirklichen Potentaten befinden sich in den Aufsichtsräten der Konzerne und nicht mehr in den Parlamenten.

Nach wie vor sind es die uralten tradierten Regeln, denen sich jede Art von menschlichem Handeln unterzuordnen hat. Eine wichtige Rolle spielen dabei die generell gültigen Menschenrechte, auf die sich die internationale Gemeinschaft schon im Jahr 2038 geeinigt hat. Die Überwachung der rechtlichen Situation, gegebenenfalls auch Aufklärung, Rechtsprechung und Bestrafung, obliegt dem Internationalen Gerichtshof, der dank der modernen Logik-Systeme als neutrale und unabhängige Instanz fungiert.