Im Laufe dieser Entwicklung ist es nicht gelungen, Rechtsbrüche völlig auszuschalten. Abgesehen von niemals völlig eliminierbaren Kleindelikten hat sich auch das große Verbrechertum nicht nur halten, sondern ausbreiten können. Es macht sich die modernen Entwicklungen zunutze – insbesondere profitiert es vom Wegfall der Grenzen. Dazu kommt, dass es von der rasanten technologischen Entwicklung enorm profitiert. Internationale Banden werden zunehmend zu einem Machtfaktor, der inzwischen so stark geworden ist, dass sich die finanziellen Transaktionen auch im weltweiten Verkehr zu einem bedenklichen Einflussfaktor entwickelten.
Bei den internationalen Banden handelt es sich heute um bestens organisierte und wirtschaftlich einwandfrei geführte Firmen. Dem offiziellen Unternehmertum gegenüber haben sie den entscheidenden Vorteil, dass sie sich nicht an rechtliche Vorschriften halten. Es lässt sich nachweisen, dass dabei schon seit Jahrzehnten eine besondere Zielvorstellung im Vordergrund steht: Die Einnahmen werden nämlich in großem Umfang in den Erwerb seriöser Großunternehmen investiert, eine Methode, die speziell vom organisierten Verbrechertum der Jahrtausendwende, vor allem der Mafia, angewendet wurde. Eingeweihten Kreisen ist bekannt, dass bereits eine Vielzahl potenter Firmen unerkannt von mafiaähnlichen Gremien dominiert wird. Seit Neuestem versuchen diese auch Einfluss auf die Weltregierung zu nehmen.
Eine besonders gefährliche Situation entsteht dadurch, dass zu den klassischen Unternehmen, etwa jenen der Energieversorgung, des Verkehrs und des Handels, in letzter Zeit noch einige dazugekommen sind, die früher dem Staat unterstellt waren, zum Beispiel die Polizei, durch die ein direkter Eingriff in das Rechtswesen angestrebt wird. Selbst unsere Behörde, der Internationale Gerichtshof, hat sich gegen den Versuch zu wehren, den neutralen Werkschutz durch Kräfte zu ersetzen, die der Internationalen Polizei unterstellt sind.
Wie es scheint, ist für die nächste Zeit eine entscheidende Initiative des internationalen Verbrechertums geplant. Worauf unsere Kenntnisse darüber beruhen, will ich diesem Papier nicht anvertrauen, aber die Situation ist so gefährlich, dass ein unverzögertes Eingreifen nötig ist. In dem verbrecherischen Plan spielt der schon seit Jahren vorbereitete Weltwirtschaftsgipfel eine tragende Rolle. Offiziell geht es dabei um die Koordination der wirtschaftlichen Aktionen und um die gerechte Verteilung der Ressourcen. Diese Gelegenheit soll dafür benutzt werden, eine grundlegende Machterweiterung der Unterwelt zu erreichen. Speziell sollen die noch gesetzestreuen Industriegruppen entmachtet und der Weisungskraft der Mafia unterstellt werden. Die Art und Weise, wie das geschehen soll, liegt noch völlig im Dunkeln.
Ich werde diese Aufzeichnungen an einer Stelle unterbringen, die nur mir bekannt ist und die ich für sicher halte. Es lässt sich aber nicht völlig ausschließen, dass sie dennoch gefunden werden. Aus diesem Grund habe ich alles weggelassen, was meinen Auftrag gefährden könnte. Es ist mir klar, dass ich mich dennoch nicht korrekt verhalte, andererseits bin ich nach wie vor für mich selbst verantwortlich. Es könnten Umstände eintreten, die mich zwingen, zu begründen, was ich getan habe. Oder, um es deutlich zu sagen: Es besteht auch die Möglichkeit, dass unser Unternehmen scheitert. Ich nehme mir das Recht, mich auf diese Eventualität einzustellen.
Während Robin las, machte sich Michèle im Zimmer zu schaffen, doch als sie merkte, dass Robin das letzte Blatt auf den Tisch zurücklegte, setzte sie sich wieder zu ihm.
»Was sagst du dazu?«, fragte sie.
»Du hast Recht«, meinte er. »Obwohl er keine konkreten Angaben über seine Aufgabe macht, kann man zwischen den Zeilen lesen.«
»… und daraus geht hervor, dass sein Auftrag sehr gefährlich ist«, fügte Michèle hinzu.
»Zweifellos«, bestätigte Robin. »Aber ganz so abstrakt finde ich Angelos Ausführungen gar nicht. Jedenfalls wird einigermaßen klar, worum es geht. Und wer die Gegner sind.«
Michèle nickte. »Ich kann mir denken, was du meinst. Aber bei der Suche nach Angelo hilft uns das wenig. Keine konkreten Antworten auf unsere Fragen, kein Hinweis darauf, wo wir ihn suchen sollen. Es ist ihm wirklich gelungen, alle Angaben über seinen Einsatz zu vermeiden – das macht unsere Bemühungen so schwer. Sicher ist nur, dass er etwas mit dieser Konferenz zu tun hat … Sie dürfte übrigens bald stattfinden, ich habe davon gehört …«
»Soviel ich weiß, in vierzehn Tagen«, sagte Robin. »Es sind die Repräsentanten der mächtigsten Nationen der Welt, die sich da treffen.«
»Ich hatte in den letzten Wochen nicht viel Zeit, politische Meldungen zu lesen oder Nachrichtensendungen zu hören. Wo findet die Konferenz denn statt?«
»Der Ort wird noch geheim gehalten. Die Teilnehmer wollen ungestört sein. Keine großen Delegationen, keine Pressevertreter. Keine Demonstrationen. Höchste Sicherheitsstufe, aber mit einem Minimum an Sicherheitskräften.«
Es trat eine kurze Pause ein, in der Michèle Gläser mit Kiwisaft und Meersalzbrezeln brachte.
Dann sagte Robin: »Obwohl wir nichts Konkretes in Erfahrung gebracht haben, wissen wir jetzt doch erheblich mehr als früher.
Jedenfalls hat sich bestätigt, dass Angelo nicht auf geheimnisvolle Weise verschollen ist, sondern ganz offiziell an einem ganz besonderen Auftrag arbeitet. Ich frage mich, ob wir uns damit nicht zufrieden geben sollten.«
»Du meinst: aufgeben?« Michèle schien darüber nachzudenken – und gewisse Zweifel zu haben.
»Hat es denn Sinn, weiterzumachen?« Robin war nicht davon überzeugt, und es war ihm anzumerken. »Angelo hat ja an dem Plan selbst mitgearbeitet, und er steht im Schutz der Behörde.« Er blickte Michèle an, und ein anderer Gedanke schoss ihm durch den Kopf: »Machst du dir Sorgen um ihn?«
Er musste an die Beziehung zwischen Michèle und Angelo denken. Es war vorbei, hatte sie gesagt. Vielleicht stimmte das nicht … vielleicht liebte sie ihn immer noch?
Michèle hatte bemerkt, dass sich Robins Stimmung plötzlich geändert hatte, und sie glaubte den Grund zu wissen.
»Sorgen …? Man könnte es so nennen, aber nicht so, wie du denkst.« Sie rückte an Robin heran und nahm seine Hand. »Du magst mich, nicht wahr?«
Als er verlegen nickte, legte sie den Arm um ihn, zog ihn an sich heran und küsste ihn. »Ich mag dich auch«, flüsterte sie, »aber lass mir ein wenig Zeit. Im Moment habe ich so viele andere Dinge im Kopf. Ich muss noch einiges in Ordnung bringen. Willst du dich ein wenig gedulden?«
Robin war fassungslos und versuchte es zu verbergen. Es war so plötzlich gekommen, so unerwartet.
Michèle blickte ihn fragend an, und er nickte. Als er ihr noch einen Kuss geben wollte, entzog sie sich ihm sanft und rückte wieder ein wenig von ihm ab.
»Mach dir keine Gedanken wegen Angelo«, sagte sie wieder in sachlichem Tonfall. »Unsere Liaison ist vorbei, und ich trauere ihr nicht nach. Trotzdem will ich natürlich nicht, dass er ins Unglück läuft. Wir haben uns im Guten getrennt.«
Robin versuchte, sich wieder auf das Thema zu konzentrieren, das ihn hierher geführt hatte. »Und warum machst du dir Gedanken?«, fragte er. »Angelo ist doch offenbar mit dem einverstanden, was mit ihm geschieht. Wieso sollte er in sein Unglück laufen?«
»Du hast ja selbst schon festgestellt, dass im Gerichtshof eine neue Abteilung, der Sicherheitsdienst, eingerichtet wurde. Sie ist in die Internationale Security eingebunden. Das geschah aufgrund eines Regierungsbeschlusses, und wir mussten uns fügen. Es ist so gut wie sicher, dass auf diese Weise Leute eingeschleust wurden, die in Wirklichkeit für den Untergrund arbeiten. Denk doch nur daran, wie es dir ergangen ist: Diese Leute wollten aus dir Informationen über Angelo herauspressen. Erst aus Angelos Aufzeichnungen wissen wir, um was es bei seinem Einsatz geht. Ich vermute, Gorosch und seine Leute müssen schon früher irgendetwas über seinen Sonderauftrag gehört haben, und vermutlich werden sie alles daransetzen, ihm einen Strich durch die Rechnung zu machen.«