»Gewiss, das könnte für Angelo gefährlich werden«, stellte Robin fest. »Kann dir denn van der Steegen nicht etwas über Angelos Auftrag sagen?«
Michèle lächelte ein bisschen traurig. »Ich habe ihn gefragt. Angeblich weiß er nichts. Das Projekt, in dem Angelo seine Rolle spielt, unterläge strengster Geheimhaltung. Nur ganz wenige seien eingeweiht. Es kann aber auch sein, dass er es einfach vergessen hat.«
Robin war anzumerken, dass er das nicht glauben konnte.
Michèle ließ sich mit der Antwort Zeit. »Das liegt an den besonderen Verhältnissen.« Sie schien darüber nachzudenken, ob sie mehr dazu sagen sollte. »Du hast doch sicher bemerkt, dass van der Steegen nicht gesund ist. Er ist nicht nur körperlich geschwächt … In letzter Zeit hat er sich völlig verändert. Noch vor kurzem stand er mit beiden Füßen auf dem Boden. Er war realistisch eingestellt, dabei ein Optimist, der auch andere überzeugen konnte. Das hat sich völlig geändert: Er schwebt in höheren Regionen, spricht von globaler Politik und von den großen Aufgaben der Menschheit. Was sich um ihn herum im Alltag ereignet, kümmert ihn nicht mehr.«
»So etwas kommt doch nicht von heute auf morgen. Kannst du dir das erklären?«
Michèle zögerte wieder mit der Antwort. Es war ein heikles Thema, das Robin da angeschnitten hatte. »Nein, aber ich habe mir meine eigenen Gedanken gemacht. Mir ist aufgefallen, dass die Veränderung kurz nach unserem Aufenthalt in ›Sanssouci‹ aufgetreten ist. Diese Kur, von der ich dir erzählt habe, hat ihm nicht gut getan. Schon während der Behandlung hat er sich darüber beklagt: Kopfschmerzen, Schwindelgefühle, Konzentrationsstörungen … Ich habe ihm geraten, die Kur abzubrechen.«
Robin hatte mit wachsender Bestürzung zugehört. »Warum hat er es nicht getan?«
»Führungskräfte sind dazu verpflichtet: Alle fünf Jahre werden sie untersucht, und wenn es angezeigt erscheint, müssen sie sich behandeln lassen.«
»Hast du denn damals schon einen Verdacht gehabt … dass sie dort etwas Schlimmes mit ihm gemacht haben könnten?«
»Keinen Verdacht, nur so ein Gefühl. Ich habe den Psychologen kennen gelernt, der Jan behandelt hat. Er hat es mir erklärt: Es ging um vorbeugende Maßnahmen gegen Alterungserscheinungen des Gehirns. Und da hatte ich den Eindruck …«, Michèle sprach nicht weiter, es war, als suchte sie nach Worten.
»Was war mit diesem Psychologen?«, hakte Robin nach.
Es fiel Michèle nicht leicht, es zu erklären. »Schwer zu sagen … Wie er sich ausdrückte … Es klang so bemüht: als wollte er mich beruhigen. Aber er hat dabei so übertrieben, und es schien mir, dass er nicht die Wahrheit sprach. Vielleicht lag es einfach daran, dass er mir unsympathisch war. Vielleicht war es diese näselnde Stimme, diese Aussprache – ich habe das noch im Ohr … Aber vielleicht tue ich ihm Unrecht …«
Eine näselnde Stimme … eine fremdländische Aussprache … – mit einem Mal war für Robin alles klar.
»Das tust du nicht«, sagte er nachdrücklich, und Michèle sah ihn erstaunt an.
»So, wie du ihn beschreibst … Ich habe da einen Verdacht … Hieß der Psychologe vielleicht Occoroni?«
»Ja, du hast Recht … Woher weißt du das? Kennst du ihn?«
»Ja, ich kenne ihn. Es ist der Arzt, der im Keller des Gerichtshofs zusammen mit Gorosch seine besonderen Tests mit mir gemacht hat.« Und Robin erzählte Michèle nun in allen Einzelheiten, was er ihr bisher nur flüchtig geschildert hatte.
»Für mich besteht kein Zweifel mehr«, sagte er abschließend. »Man hat versucht, van der Steegen auszuschalten. Und es ist nun natürlich auch klar, wer dahintersteckt.«
Michèle blickte zu Boden, bestürzt und ratlos. »Ich habe bisher noch mit niemandem darüber gesprochen«, flüsterte sie und zitterte leicht.
Robin fasste ihre Hand und hielt sie fest. Er wartete, bis sie sich ein wenig beruhigt hatte. Er dachte darüber nach, was er tun könnte, um sie auf andere Gedanken zu bringen. »Jetzt wissen wir doch schon ein bisschen mehr«, sagte er dann. »Das ist die Voraussetzung dafür, etwas zu unternehmen. Ich will der Sache nachgehen. Aber einiges ist mir noch nicht klar. Jan muss doch seine Arbeit weiterführen, Anordnungen geben, Entscheidungen fällen. Wie bringt er das zustande?«
Michèle blickte Robin an und sagte leise: »Er überlässt es mir.«
»Er überlässt es dir?«, wiederholte Robin erstaunt. »Aber wie kann er das von dir verlangen? Das ist doch eine gewaltige Bürde! Du musst etwas dagegen tun! Es gibt doch eine übergeordnete Instanz, an die du dich wenden kannst.«
Michèle schüttelte entschieden den Kopf. »Das wäre der Vorstand«, sagte sie. »Zum Vorstand gehen, um etwas Negatives über Jan zu sagen … Nein, das ist unmöglich, das kann ich nicht.«
»Du trägst eine riesige Verantwortung«, wandte Robin ein.
»Bisher bin ich gut damit fertig geworden. Doch diese Sache mit Angelo, der geheime Auftrag, die Verwicklung mit dem Sicherheitsdienst … das alles wird mir jetzt ein bisschen zu viel.«
Sie blieben eine Weile stumm nebeneinander sitzen. Dann fragte Michèle leise: »Ich fühle mich sehr einsam. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Wirst du mir weiterhin helfen?«
»Aber ja«, sagte Robin. »Ich will dir helfen.«
Inzwischen war es draußen dunkler geworden, und da Michèle die Beleuchtungsautomatik ausgeschaltet hatte, lag auch das Zimmer in der Dämmerung. Es war einer jener seltsamen Momente, in denen der Eindruck entsteht, die Zeit stünde still.
Es war Michèle, die sich zuerst dieser Stimmung entzog. Sie hatte sich aufgerichtet und wirkte ernst, aber nicht mehr so bekümmert. Robin bewunderte ihre Willenskraft. »Ich werde mir überlegen, was da zu machen ist«, kündigte sie an und wirkte mit einem Mal wieder ruhig und gelassen. »Ich melde mich bei dir, bald …«
Robin erhob sich. »Ich werde dann wohl gehen.«
Michèle zögerte ein wenig, tat aber nichts, um ihn zurückzuhalten. Dann entsann sie sich und drückte Robin die Papiere in die Hand. »Du kannst sie mitnehmen«, sagte sie. Als sie sich an der Tür verabschiedeten, gab sie ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
Gegen Kälte und Erschöpfung
Ich erwachte.
Ich hatte jedes Gefühl für die Zeit verloren und wusste auch nicht, was in den letzten Stunden geschehen war. Ich steckte noch im Schlafsack, es war schwarz um mich herum, weil ich ihn über meinem Kopf geschlossen hatte. Trotzdem war es kalt – die Kälte hatte mich geweckt.
Vorsichtig streckte ich mich und schob die Hüllen beiseite.
Erst jetzt erinnerte ich mich: Das war die Spalte unter dem Eisblock, unter dem ich Zuflucht gefunden hatte. Dort, am Rand, hingen die Eiszapfen, darunter eine Lage angewehter Schnee. Hinter der schmalen frei gebliebenen Öffnung war es grau, und ich sah, wie Schnee vorüberwehte. Das Wetter hatte sich schon wieder geändert. Doch immer noch wehte der eisige Orkan.
Mir blieb nichts anderes übrig, als weiter in meinem Versteck zu bleiben. Der Aufenthalt in der engen Spalte war nicht gerade angenehm, aber ich musste zufrieden sein, dass ich das Unwetter bisher überstanden hatte.
Meine Füße schmerzten, hoffentlich waren keine bleibenden Schäden entstanden.
Andererseits zerrte das Bewusstsein, dem Ziel so nahe zu sein und ihm doch nicht näher kommen zu können, an meinen Nerven. Einige Male kam es mir vor, als ob es draußen stiller wurde, dass die Gewalt des Sturmes nachgelassen hatte, und dann schickte ich mich an, die vor mir lagernden Schneemassen zu lockern, die Öffnung zu vergrößern, um mich draußen umsehen zu können, doch sofort wurde das Brausen und Heulen des Windes unangenehm laut, und ich zog mich mit dem Schicksal hadernd zurück.