Es war Abend, und unter normalen Umständen hätte ich Ellen nie gestört. Aber mein Anliegen war bestimmt wichtig genug, um die Regeln des Anstands zu brechen: Ich wählte ihre Nummer und musste erst einem Anrufautomaten Auskunft darüber geben, wer ich war und was ich wünschte. Doch dann hörte ich ihre Stimme, und ich sagte nur: »Ich bin wieder im Bilde.«
»Das ist gut!« Ich hörte, wie sie erleichtert durchatmete. Dann fragte sie: »Da können wir endlich offen miteinander sprechen. Wollen wir uns heute noch sehen? Am besten im Foyer, im Blauen Salon – das ist jener Nebenraum mit den hellblau bezogenen Renaissance-Möbeln. Sagen wir: in zehn Minuten?«
Wir waren beide pünktlich und trafen uns schon im Aufzug.
Die Rezeption war besetzt, und da und dort sah ich auch Gruppen von Delegierten, die an den niedrigen Tischen im Foyer Platz genommen hatten und sich unterhielten.
Glücklicherweise war der Blaue Salon leer, doch kaum, dass wir ihn betreten hatten, kam auch schon ein Kellner und nahm unsere Bestellung auf. Ellen bestellte zwei Martini.
Die blaue Nische mit ihrem antiken Renaissance-Mobiliar und den altertümlichen Ölbildern war ein Kleinod für sich, aber dafür hatten wir an diesem Abend wenig Sinn.
»Wie bist du drauf gekommen?«, fragte sie, als wir uns in die weich gepolsterten Stühle gesetzt hatten. Unsere Beziehung hatte sich geändert: Jetzt waren wir Verbündete.
»Durch einen assoziativen Auslöser. Ein Bild im Fernsehen: Es wurde vor den Abendnachrichten kurz eingeblendet. Sehr beziehungsreich: eine Erdkugel, von fünf Ringen umgeben. Darauf war ich konditioniert. Das Emblem hat mir die Erinnerungen aus den vorangegangenen Monaten zurückgebracht, die in meinem Gehirn in der Zwischenzeit mit einer Sperre geschützt waren. So hat man es mir damals erklärt, als ich mit einer Metallhaube auf dem Schädel im Behandlungsstuhl saß. Jetzt weiß ich, was ich hier zu tun habe. Und ich weiß auch wieder, warum man diese Maßnahme ergriffen hat. Entschuldige bitte meine Ignoranz.«
»Da gibt es nichts zu entschuldigen. Es war ja nötig, sich auf alle Eventualitäten einzustellen. Und ich kann verstehen, wie unangenehm die Situation für dich war. Aber jetzt hast du es überstanden – du hast Glück gehabt.«
Natürlich hätte einiges schief gehen können. Aber war es wirklich Glück? Was hatten die, die das veranlasst hatten, vorausgesehen, geplant, berechnet? Und was entzog sich ihrer Voraussicht?
Eigentlich war es unglaublich, wie entscheidend sich meine Situation mit einem Schlag geändert hatte, und nicht nur diese: mein Gemütszustand, meine Persönlichkeit. Ich war ein anderer geworden, hatte andere Interessen, andere Ziele. Vom naiven Sylvan, der partout den Nordpol erreichen wollte, war nicht viel übrig geblieben.
Dann durchfuhr mich ein erschreckender Gedanke: Hatte ich mich nun endgültig in meine wirkliche Persönlichkeit zurückverwandelt, oder gab es in meinem Gehirn weitere für mich noch unzugängliche Bereiche? Vielleicht war das nicht die einzige Sperre gewesen? Der Gedanke, dass jemand von außen jederzeit eingreifen konnte, um mich erneut in einen anderen zu verwandeln, war schockierend. Durfte ich überhaupt noch irgendwann sicher sein, zu meiner wahren Persönlichkeit zurückzufinden?
Ich hatte in Gedanken versunken geschwiegen, und Ellen hatte mich nicht gestört. Nun aber, als sie bemerkt hatte, dass ich wieder in die Gegenwart zurückgefunden hatte, erkundigte sie sich danach, was mir Unbehagen bereitete, und ich versuchte es ihr zu erklären.
Es war gut, darüber mit jemand zu sprechen, und ich spürte, dass Ellen mich verstand.
Ein Bediensteter brachte alkoholische Getränke; hier, in diesem abgelegenen Winkel, schienen die Gesetze der übrigen Welt nicht zu gelten. Nach einer alten Sitte hoben wir die Gläser, so dass sie sich leicht berührten und einen hellen singenden Ton von sich gaben. Wir wünschten uns Glück und tranken. Es schmeckte süß und bitter zugleich und schien fast augenblicklich ein befreiendes Gefühl zu verursachen.
Das Licht kam von einem mit Glasstückchen behängten Lüster und war auf angenehmes Dämmerlicht herabgeregelt. In dieser Beleuchtung erschienen Ellens Gesichtszüge erstaunlich weich.
»Was weißt du von meiner Aufgabe?«, fragte ich. »Ich vermute, es ist mehr, als mir selbst bewusst ist.«
»Ich weiß nur wenig«, antwortete Ellen. »Zuerst dachte ich, es hätte etwas mit Berichterstattung zu tun. Aber dann dämmerte mir, dass der Geheimdienst dahinter steckt. Du brauchst mir auch nichts Genaueres darüber zu sagen. Ich will es gar nicht wissen. Man hat mir nur mitgeteilt, dass man Sylvan Caretti hierher schicken würde und dass er einen besonderen Auftrag hätte. Und man teilte mir mit, dass er über das Eis kommen würde. Und dass ich es geheim halten müsse.«
Ich nickte, es klang einleuchtend, und es passte zu dem, was ich mir inzwischen zusammengereimt hatte.
Ellen überlegte kurz. »Da gibt es noch etwas, was du wissen musst. Vor drei Tagen habe ich in meinem Textspeicher eine bis dahin gesperrte Notiz gefunden: dass hier irgendwo im Hotel ein Behälter mit Spezialgeräten für dich versteckt ist. Irgendeiner der Gäste muss sie heimlich eingegeben haben – offenbar schon zu jener Zeit, als das Hotel noch öffentlich zugänglich war. Wahrscheinlich hat er auch den Behälter versteckt. Erst als unsere Zusammenarbeit perfekt war, hat man es mir mitgeteilt – und dazu ein Stichwort, das ich dir mitteilen soll. Vielleicht sind es Waffen – was mir nicht sehr angenehm wäre.«
Ich horchte auf: ein Behälter mit Spezialgeräten, ein Stichwort, das sie mir mitteilen sollte …
»Wie lautet das Stichwort?«
»›Sonnenwind‹.«
Jetzt erst begriff ich: wieder ein Schlüsselreiz, der meine Erinnerung wecken sollte. Und tatsächlich fiel mir nun ein, was man mir seinerzeit mitgeteilt hatte – um es später wieder zu löschen.
»Jetzt ist alles klar: Die Sachen sind im Ventilator, in der Küche. Wir sollten sie bald holen – am besten noch heute Nacht. Dieses moderne Zeug ist so klein, dass man es leicht verstecken kann: Minikameras für geheime Fernsehaufnahmen, Abhörgeräte und einiges andere. Ich kann dich also beruhigen: Es sind keine Waffen dabei – die hätte man nicht so leicht verstecken können.«
»Das ist gut – ich hatte schon Sorge, ob alles wirklich so harmlos ist, wie man mir gesagt hat. Ob ich da nicht in eine üble Sache hineingeraten bin.«
Es war offensichtlich, dass sie damit auch eine Frage verband – und hoffte, dass ich ihre nachträglich aufgekommenen Bedenken zerstreuen könnte. Aber wäre das die Wahrheit? Konnte ich wirklich ausschließen, dass das, was hier im Haus geschehen würde, nicht auch schlimme Folgen haben könnte? Plötzlich spürte ich so etwas wie ein schlechtes Gewissen.
»Warum hast du dich darauf eingelassen?«, fragte ich.
Ellen blickte zu Boden, als sie antwortete. »Man hat mir gesagt, es wäre eine gute Sache, dich hier aufzunehmen und dir behilflich zu sein. Aber, um ehrlich zu sein: Das war nicht der wirkliche Grund für meine Zusage.«
»Und was ist der wirkliche Grund?«, fragte ich.
»Ich will von hier fort, und dazu brauche ich Geld«, antwortete Ellen und blickte mich aufmerksam an, als wollte sie herausfinden, ob ich über dieses Geständnis schockiert wäre. »Das Hotel gehört meiner Familie, und obwohl ich die Jüngste unter den Geschwistern bin, hat man mir die Leitung anvertraut. Leider haben wir damit Verluste gemacht, und ich möchte hier nicht länger bleiben. Ich möchte selbständig sein – und nicht hier versauern. Aber ich kann mich nicht davonmachen und Schulden zurücklassen.«
Die Erklärung leuchtete ein, und ich hatte keinen Grund zu widersprechen. Was mir durch den Kopf ging, während ich Ellen zugehört hatte, bezog sich auf etwas ganz anderes – nämlich auf die Frage, ob nicht Ellen in Gefahr geraten könnte. Es gelang mir nicht, meine Besorgnis zu verbergen.
Ellen hatte mich beobachtet. »Ich denke jetzt ein wenig anders darüber«, sagte sie. »Das alles ist nicht ganz so harmlos, wie man mir vorgemacht hat. Ich habe tatsächlich Angst.«