Robin hatte ein Zimmer bestellt. Er trat an eines der Taxis heran und erkundigte sich nach dem Weg zum Hotel. Der Fahrer nötigte ihn zum Einsteigen, und Robin war ganz froh, dass er seine Reisetasche nicht weiter schleppen musste. Da der Kleinwagen keinen Kofferraum enthielt, wurde das Gepäckstück auf dem Rücksitz neben ihm abgestellt.
Eine ratternde Fahrt über Steinpflaster, vorbei an schmutzig weißen Häusern mit flachen Dächern, die oben, über der Straße, zusammenzustoßen schienen. An die Häuserwände angeklebt – so sah es zumindest aus – schmale Balkone, von schmucklosen Metallgittern umsäumt. Es war kaum ein Mensch zu sehen. Doch dann öffnete sich vor ihnen unversehens ein stattlicher Platz, und damit änderte sich die Situation entscheidend. Hier hielt sich eine erstaunlich große Zahl von Menschen auf, die scheinbar ziellos umherschlenderten oder einfach herumstanden: vor der Stiege, die zu einer imposanten und offenbar erst kürzlich renovierten Kirche führte; neben den Holzbänken, die vor Restaurants und Souvenirläden aufgereiht waren; um eine Gruppe von älteren Leuten herum, die in ein Kugelspiel am Boden vertieft waren … Trotzdem schien das Auftauchen des Taxis einiges Aufsehen zu erregen, denn viele drehten sich zu ihm um.
Plötzlich ein Ruck, der Fahrer hatte jäh gebremst, durch die Windschutzscheibe konnte Robin die Gestalt eines jungen Mannes erkennen, der, eine Schusswaffe drohend erhoben, neben dem Taxi aufgetaucht war, gleichzeitig riss jemand die hintere Autotür auf – auf der Seite, auf der das Gepäck gestapelt war – und packte die Reisetasche. Es geschah so schnell, dass Robin erst begriff, als die beiden Räuber längst auf der Flucht waren.
Der erste Schreck wandelte sich rasch zu heller Empörung über diese Frechheit. Da ihm niemand zu Hilfe kam, musste er selbst etwas unternehmen – aber was? Doch bevor er einen Entschluss fassen konnte, verfolgten drei verwegen aussehende Männer mit Schirmmützen die beiden Flüchtenden und hielten sie fest. Einer nahm die Reisetasche an sich, sah sich nach dem Taxi um und ging darauf zu. Er machte eine grüßende Handbewegung und reichte Robin das Gepäckstück. In diesem Moment ertönte lauter Applaus: Das Taxi war dicht umringt von Zuschauern, die ihren Beifall an die hilfsbereiten Männer richteten. Ein übler Scherz, den man sich da mit Neuankömmlingen machte! Die gelangweilten Touristen hatten offensichtlich schon darauf gewartet.
Auch der Wagenlenker winkte den um sein Fahrzeug versammelten Männern zu, Scherzworte flogen hin und her, und nun kamen auch die unechten Räuber zurück und hielten die Hände für ein Trinkgeld auf. Mit saurer Miene verteilte Robin einige Credits. Es dauerte lange, ehe sich der Pulk auflöste und Robin die Fahrt fortsetzen konnte. Endlich lenkte der Fahrer das Taxi in das Gassengewirr zurück – um schließlich auf dem Platz herauszukommen, von dem aus sie am Anfang ihrer Fahrt gestartet waren. Er fuhr an die Häuserfront heran und hielt vor einem der größeren Gebäude, auf dem Robin nun ein Hotelschild erkannte.
Robin dachte kurz daran, sich zu beschweren – über das abgekartete Spiel, das da auf seine Kosten abgelaufen war. Dann aber verzichtete er darauf, es hätte wenig genutzt, und er wollte ja kein Aufsehen erregen.
Robin hatte ein Zimmer zugewiesen bekommen, in dem ein scheppernder Ventilator die heiße Luft verwirbelte. Er war heilfroh, an seinem Ziel zu sein, von der wilden Autofahrt war er ziemlich erschöpft. Das Erste, was er zu erledigen hatte, war ein Anruf bei Josz. Der berichtete, dass sich Gorosch, wie sie es erwartet hatten, für einen kurzen Urlaub abgemeldet hatte.
»Heute früh ist er aufgebrochen«, berichtete Josz, »doch kurz darauf verloren wir die Verbindung – vielleicht hat er den im Zahn eingebauten Sender entdeckt. Aber das Ziel seiner Reise ist uns ja bekannt.«
Damit war das Wichtigste gesagt. Robin bat Josz, das Hotel ausfindig zu machen, in dem Gorosch absteigen würde, und verabschiedete sich dann schnell. Robin versuchte, Michèle zu erreichen, was ihm zwar nicht gelang, aber er erfuhr, dass sie verreist war. Sollte es ihr gelungen sein, so kurzfristig eine Reise nach »Sanssouci« zu organisieren?
Da die Ankunft von Gorosch nicht vor Mittag des folgenden Tages zu erwarten war, blieb Robin noch ein wenig Zeit, um seine Aktionen vorzubereiten. Er beschloss, sich in einem der Läden mit der für Touristen üblichen bunten Ferienkleidung auszustatten, was sicher eine gute Tarnung war. Weiter schien es ihm wichtig, sich im Ort umzusehen und einen Plan für sein Vorgehen zu entwickeln. Obwohl er Appetit hatte, gönnte er sich keine richtige Mahlzeit, sondern holte sich an einem Kiosk ein merkwürdiges, fladenartiges Produkt, das mit scharf schmeckenden Wurststückchen belegt war. Beim Essen knirschte es zwischen den Zähnen, aber es war angenehm sättigend.
In dieser Jahreszeit ging die Sonne spät unter, und so blieben Robin noch ein paar Stunden, um sich mit der Örtlichkeit vertraut zu machen. Glücklicherweise war es inzwischen nicht mehr ganz so heiß.
Einige Schilder zeigten den Weg zu einem »Castello«, und Robin folgte ihnen, da er dort das Stadtzentrum vermutete. Er kam an einigen Barockpalästen vorbei und konnte Inschriften entziffern, die auf Besitztümer adeliger Familien wiesen. Kamen sie als Treffpunkte der Versammlung infrage, an der Gorosch teilnehmen sollte? Robin versuchte eine Tür zu öffnen, was aber nicht gelang, und als er in ein Fenster blickte, sah er im Innern einen mit zerbrochenen Bausteinen übersäten Boden und eine Wand mit Löchern, durch die von außen Licht einfiel; die äußerlich sichtbare Instandhaltung hatte sich wohl nur auf die Fassade beschränkt. Und ähnliche Beobachtungen machte er auch bei anderen antiken Gebäuden.
In der Tat war das Castello auch der Mittelpunkt von Corleone. Es war jenes Gebäude, von dem aus sich der Turm in den Himmel erhob – in sarazenischem Stil gebaut, wie auf einer Tafel zu lesen war. Im Gegensatz zu den anderen vornehmen Bauten war es noch bewohnt und diente einer klösterlichen Bruderschaft als Domizil. Auch hier wimmelte es von Besuchern aus allen möglichen Ländern. Eine Schar von fliegenden Händlern bot Andenken an: Imitate von alten Waffen, Degen und Stichmesser aus Kunststoff, auf Alt getrimmte Kappen und Filzhüte, Bilder von Mafiagrößen wie des Volkshelden und Banditen Giuliano und des machthungrigen Paten Michael Corleone. Das Geschäft schien gut zu gehen, denn überall sah man als Mafiosi verkleidete Männer. Waren es Einheimische, die etwas zur Atmosphäre des Ortes beitragen wollten, oder Touristen, die die Verkleidung wohlig schaudernd zur Schau stellten?
Ohne festes Ziel wanderte Robin weiter, er drang in die engen Gassen ein, in denen für Autos kein Platz war, und wunderte sich darüber, dass sich hier das Leben zu einem großen Teil auf die Straße verlagert hatte. Überall dort, wo die Gebäude ein wenig Platz ließen, waren Handwerker zu sehen, Tischler an der Hobelbank und an der Drechselmaschine, Schmiede mit schweren Hämmern am Amboss, Schneider an klapprigen Nähmaschinen, alte Frauen an Webstühlen und vieles mehr. Und überall standen Touristen, die zusahen und die Ergebnisse des fröhlichen Werkens als Andenken erwarben.
Robin ging weiter – und stand plötzlich wieder vor seinem Hotel. Es war zweifellos etwas schwierig, in diesem ungeordneten Straßennetz die Übersicht zu behalten. Robin blickte sich um, versuchte sich zu orientieren – wenn er diese Richtung einschlug, sollte er eigentlich in einen anderen Stadtteil kommen. Er schritt eilig durch die engen Häuserschluchten – und landete wieder am Platz des Castellos.
Daraufhin entschloss er sich, systematisch vorzugehen. Er versuchte eine konsequent gerade Richtung einzuhalten, sah aber bald ein, dass das nicht möglich war, weil er durch den Straßenverlauf gezwungen war, mehrmals nach links zur Seite auszuweichen. Er ging weiter und achtete nun darauf, bei jeder Kreuzung oder Verzweigung dem rechten Ast zu folgen. Als er aber wieder im Zentrum ankam und dann, beim Weitergehen, auf dem Platz am Eingangstor, bei seinem Hotel, da wurde ihm klar, dass sich der in diesem Ort zugängliche Raum auf eine relativ kleine Fläche beschränkte. Es schien keine Verbindung zu den anderen Stadtteilen zu geben. Eine unangenehme Erkenntnis, denn wenn Gorosch ortskundig war und sich mit seinen Partnern außerhalb des Touristenviertels traf, dann konnte es geschehen, dass er, Robin, ihn überhaupt nicht zu Gesicht bekam. Der Sicherheit halber ging er durch das Stadttor nach außen, doch als er den Parkplatz verlassen wollte, war der schläfrige Wächter mit einem Mal recht wach.