»Leider beschäftigen sich nur wenige unserer Gäste mit unserer wechselvollen Geschichte«, sagte Lorenzo. »Sie sind heute der erste Besucher. Können Sie mir sagen, wofür Sie sich besonders interessieren? Vielleicht kann ich Ihnen noch ein paar Tipps geben.«
Inzwischen hatte sich Robin eine Geschichte ausgedacht. »Ich möchte einen historischen Roman schreiben, etwas Spannendes, was in dieser Gegend spielt. Es soll um Auseinandersetzungen einiger verbündeter Familien mit der Obrigkeit gehen.«
»Also etwas aus dem Milieu der Mafia. Da gibt es viele ungewöhnliche Geschichten.«
»Die Handlung habe ich mir schon zurechtgelegt, es geht mir vor allem um die Beschreibung der Schauplätze.«
Lorenzo hob resignierend die Schultern. »Man hat vieles davon verfallen lassen. Die Idee, den Ort für den Fremdenverkehr zu erschließen, kam viel zu spät. Aber trotzdem kann man an einigen Stellen noch etwas von der früheren Pracht erahnen.«
»Den Eindruck habe ich auch gewonnen, und ich habe schon einiges notiert, was mir nützlich sein kann. Nun habe ich noch ein spezielles Problem: Ich möchte einen Platz für Versammlungen beschreiben, die möglichst im Verborgenen vor sich gehen sollen. Ich denke da an irgendwelche versteckten Räume, Keller beispielsweise, Katakomben oder Ähnliches. Wo haben sich denn die Verschwörer früher getroffen?«
Lorenzo hob bedeutungsvoll die Hand. »Oh, da liegen Sie aber völlig daneben, wenn Sie so etwas im Bereich der Stadt suchen. Da habe ich etwas Besseres, und es ist sogar historisch belegt.« Er schwieg, um die Spannung zu erhöhen, doch Robin zeigte keine Ungeduld, und so fuhr Lorenzo fort: »In der Umgebung gibt es mehrere Höhlen, und sie spielten bei den Auseinandersetzungen eine wichtige Rolle – wenn es beispielsweise darum ging, Flüchtlinge zu verstecken. Und eine davon hat tatsächlich als geheimer Versammlungsort gedient.«
Robin war nicht sicher, ob er sieh Gorosch und dessen Kollegen aus Politik und Wirtschaft in einer Höhle vorstellen konnte, doch als hätte Lorenzo seine Zweifel erraten, ging er gerade auf diese Bedenken ein. »Es ist eine große, künstlich eingeebnete Halle – bestens für solche Zwecke geeignet. Und leicht zu erreichen: Es gibt nur eine einzige Engstelle – das ist der Eingang, der sich leicht mit einer Steinplatte verschließen und dadurch verbergen lässt.
Von dort kommt man durch einen Gang in eine Halle, in der man es sich richtig bequem machen kann. Heute noch stehen dort gut erhaltene Holzbänke, und an einer Tropfstelle kann man frisches Trinkwasser auffangen. Dazu kommt die angenehme Temperatur, selbst im Hochsommer ist es in der Höhle wohltuend kühl.«
Robin war anzumerken, dass er schon halb und halb überzeugt war, und als sich Lorenzo erbot, ihm das Versteck zu zeigen, nahm er gern an. Sie verabredeten sich für den Nachmittag, an dem das Museum geschlossen war.
Lorenzo hatte Robin versichert, dass keine besondere Ausrüstung nötig sei, und für Lampen würde er schon sorgen. Er wartete vor dem Stadttor in einem stark zerbeulten Geländewagen. Ein kurzes Stück ging es auf der Straße dahin, dann steuerte Lorenzo geradewegs auf eine steinbedeckte Ebene zu, und sie fuhren nahezu ein halbe Stunde über die gefurchte Karsthochfläche. Der Wagen sackte in Gruben, sprang über Kalksteinblöcke, und Robin klammerte sich mit beiden Händen an die Griffe, um nicht hinausgeschleudert zu werden.
Schließlich kamen sie in eine Senke, die mit dürrem Buschwerk und einzelnen Olivenbäumen bedeckt war. Ein nur an zwei Rillen erkennbarer Fahrweg führte sie an eine Felswand, sie hielten, und Lorenzo kündigte an, dass sie noch ein kurzes Stück zu gehen hätten. Jetzt bereute es Robin, dass er sich keine festen Schuhe besorgt hatte, denn auf dem weglosen Gelände stieß er sich an Felszacken, stolperte über herausragende Wurzeln und zerkratzte sich Schienbeine und Waden an Disteln und Dornen.
An einer nicht weiter auffälligen Stelle blieb Lorenzo stehen. »Wir sind da!« Er freute sich über Robins erstauntes Gesicht, als er an die Felswand trat, einige Steine aufhob und eine Steinplatte freilegte. Sie ließ sich mit vereinter Kraft beiseite schieben, und da öffnete sich vor ihnen auch schon der dunkle Gang, den Lorenzo angekündigt hatte.
Feuchte, kühle Luft wehte ihnen entgegen, und im Licht der alten Karbidlampen, die Lorenzo etwas umständlich zum Brennen gebracht hatte, traten sie ein. Für Robin eine ungewohnte Umgebung. Es ging über Kalkkrusten, von den Decken hingen Tropfsteine, und wenn sie an Nischen vorbeikamen, dann sahen sie dort winzige Calcitnadeln glitzern.
Vielleicht 50 Meter weit drangen sie ins Innere vor, dann hob sich die Decke, und sie standen in einer Halle voll zahlloser Tropfsteine: kuppeiförmige Bodenzapfen, spitze herunterhängende Deckenzapfen und mehrere mächtige Säulen, die von vorhangartig geformten Kalkausscheidungen umkleidet waren.
»Da sind wir«, sagte Lorenzo und deutete auf eine Reihe parallel ausgerichteter Bänke. Ihnen gegenüber, etwas erhöht auf einer natürlichen Felsstufe, standen einige Holzsessel, in einem Halbkreis angeordnet. Man konnte sich gut vorstellen, dass hier geheime Zusammenkünfte stattfanden – verbrecherische Verschwörungen ausgeheckt oder satanische Riten exerziert wurden. Zumindest als Kulisse für Abenteuerfilme wäre das ein günstiger Platz.
Lorenzo war an eine Nische getreten und holte etwas aus einer dort stehenden Truhe. Er kam damit zu Robin zurück, der auf einer der Bänke Platz genommen hatte und unwillkürlich zusammenzuckte, als sich zwei Pistolen auf ihn richteten.
»Die habe ich dort drüben aus dem Lehm gegraben. Sie waren in ein Wachstuch eingewickelt und sind ungewöhnlich gut erhalten. Ganz seltene Stücke aus dem achtzehnten Jahrhundert.«
Er legte sie Robin in den Schoß. Der hatte keine Ahnung von Antiquitäten, trotzdem meldeten sich in ihm Zweifel an der Echtheit, als er die Waffen in der Hand hielt und genauer betrachtete. Immerhin hatte er einige Übungsstunden mit Handfeuerwaffen absolviert, und so wusste er, wie man damit umgeht. Er wog die Waffe in der Hand, blickte in den Lauf und schwenkte die Trommel heraus. An einer Seite erkannte er eine winzige, eingravierte Schrift, und es gelang ihm, sie trotz der mäßigen Beleuchtung zu entziffern. Was da eingraviert war, hieß zweifellos »Made in China«.
Robin verzichtete darauf, Lorenzo darauf aufmerksam zu machen, aber das Vertrauen zu seinem Führer war nun empfindlich gestört. Und zugleich verschwand auch seine Hoffnung, hier den Versammlungsort von Gorosch und seinen Verbündeten gefunden zu haben. Vielleicht war er zuerst noch von der abenteuerlichen Vorstellung eines verschwörerischen Zusammentreffens in einer solchen Naturkulisse beeindruckt gewesen. Jetzt aber war er ernüchtert, und er war sich sicher, dass die Höhle nichts mit den Machenschaften der modernen Wirtschaftsmafia zu tun hatte. Wahrscheinlich hatte sie überhaupt nie etwas mit der Mafia zu tun gehabt.
Robin ließ sich jedoch nichts anmerken. Er wandte sich an Lorenzo und versicherte ihm, dass die Höhle ihn in Hinblick auf seinen Roman sehr inspiriert habe.
Plötzlich hatte er es eilig, nach Corleone zurückzukehren, und so ertrug er die erbarmungslose Rüttelei der Geländefahrt noch einmal mit erzwungener Geduld. Am Platz hinter dem Tor ließ er sich absetzen. Er drückte Lorenzo einige Credits in die Hand. Für seinen Führer hatte sich die Exkursion gelohnt.
Die heißeste Tageszeit war vorbei, und allmählich kamen die Menschen wieder aus ihren schattigen Winkeln. Der Lärmpegel stieg deutlich an, vor allem das Kindergeschrei machte sich mehr und mehr bemerkbar. Robin ging in sein Hotelzimmer und nahm wieder Verbindung mit Josz auf. Der meinte, dass mit Goroschs Eintreffen erst gegen Abend zu rechnen sei – dieser hätte vermutlich die Möglichkeit, sich für die Strecke von Palermo nach Corleone einen Helikopter zu besorgen, aber wahrscheinlich legte er ebenso wie Robin keinen Wert darauf, besonderes Aufsehen zu erregen, und würde sich wohl eher mit einem Bus oder Leihwagen begnügen – und dann war mit seiner Ankunft nicht vor dem Abend zu rechnen. Es galt also abzuwarten.