Gewisse Hoffnung knüpfte Robin an einen Besuch in den abgesperrten Stadtteilen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sich die Teilnehmer des echten Mafia-Treffens unter die Touristen mischen würden.
Eine kühle Dusche, eine halbe Stunde Ruhe im knarrenden Bett, dann machte sich Robin auf den Weg. Ohne Schwierigkeiten fand er die bewusste Stelle am Ende der Sackgasse, und gleich darauf stand er an der schmalen Stiege mit dem an einer Absperrkette hängenden Schild PRIVAT. Ein wenig zögernd begann er den Aufstieg über die von vielen Schuhsohlen glatt geschliffenen Steinstufen, er bog um zwei Ecken, ging ein Stück durch einen offenen Gang und hatte dann nur noch einen kurzen Abstieg zur nächsten Straße vor sich.
Zuerst hatte Robin gefürchtet, in diesem Ortsteil aufzufallen, vielleicht sogar aufgehalten und zur Rede gestellt zu werden, doch dann begegnete er einigen Einwohnern, die ihm keine besondere Beachtung schenkten. Wie er so durch die Gassen ging, empfand er gleichwohl einen entscheidenden Unterschied. Es lag am Eindruck des Echten, Wahren und Natürlichen, den er nun empfand – ein normales Dorf mit asphaltierten Straßen, frei hängenden Stromleitungen und einem Dickicht aus Radio- und Fernsehantennen. Zwischen die steinernen Häuser, wie sie hier früher gebaut wurden, hatten sich Ziegelbauten geschoben, aber trotz des dadurch verübten Stilbruchs wirkte diese Gegend unverfälschter als das Zentrum. Selbst die Leute, die an ihm vorbeikamen, strahlten Normalität aus; sie benutzten die Errungenschaften des dritten Jahrtausends wie Schirmmützen, Jeans, Mobiltelefone und Musikboxen. Doch vor allem: Es waren keine Touristen unter ihnen.
Obwohl Robin keine Ahnung hatte, wie er nun an die von ihm angestrebten und gar nicht weiter definierbaren Erkenntnisse kommen sollte, fühlte er sich plötzlich nicht mehr so fehl am Platz wie während seines bisherigen Aufenthalts in Corleone, sondern war auf nicht weiter ergründbare Art sicher, nun bald an der Quelle seiner Wünsche zu sein.
So überließ er sich gern den Eindrücken dieses aus früheren Jahrhunderten stammenden Orts und schlenderte gut gelaunt durch die Gassen. An einer Stelle, wo sich die Straße zu einem länglichen Platz erweiterte, fand Robin ein einfaches Restaurant. Vor dem Gebäude war eine Laube eingerichtet, der darüber wachsende Wein spendete Schatten. Einer spontanen Regung folgend, nahm Robin auf einer Bank Platz und ließ sich eine Flasche Mineralwasser bringen.
Um diese Zeit waren es nur wenige Leute, die sich hier niedergelassen hatten; die meisten von ihnen waren alt. Ein stattlicher Greis mit langem weißem Haar, der auf der Nebenbank saß, nickte Robin zu, und als dieser den Gruß freundlich erwiderte, sagte er: »Mineralwasser ist etwas Gutes. Aber man sollte es nicht ohne Wein trinken. Wollen Sie ihn nicht einmal versuchen?« Er wandte sich zu Robin und hob einladend eine Karaffe mit dem aus roten Trauben gekelterten Getränk, das man in dieser Gegend mit Vorliebe zu trinken schien.
Robin war dieser Kontakt nur recht, von dem Alten konnte er vielleicht einiges Nützliches erfahren. Darum trank er den Rest des Wassers aus und hielt dem Alten sein Glas hin. Der schenkte ein und setzte sich dann wie selbstverständlich auf die Bank neben Robin. Sie prosteten sich zu, und Robin fand einige lobende Worte für die Flüssigkeit mit der schönen Farbe, von der er nicht gerade begeistert war.
»Mein Name ist Aurelio Gattuso«, sagte der Sizilianer.
Auch Robin stellte sich vor.
»Sie haben vermutlich die Nase voll von dem Trubel da drüben«, sagte Gattuso.
Robin nickte. »Diese Hektik ist schwer zu ertragen.« Und um das Gespräch gleich in die richtige Richtung zu lenken, fügte er hinzu: »Besonders dieses Mafiatheater ist unerträglich.«
»Hier war nun einmal ein Zentrum der Mafia«, erwiderte der Alte. »Jeder in dieser Stadt hat Ahnen aus den großen Familien. Ich selbst stamme in direkter Linie von Salvatore Giuliano ab. Ich habe ihn noch persönlich gekannt.«
Robin versuchte sich an das zu erinnern, was er den Unterlagen über die Mafia entnommen hatte. »Ich weiß nicht viel über Giuliano. War das nicht der Revolutionär, der sich für die Rechte der Armen einsetzte? Jedenfalls eine herausragende Persönlichkeit.«
»Das war er«, bestätigte Gattuso. Und er erzählte einiges über seinen Ahnen – wie er den Reichen auflauerte und ihnen Geld und Schmuck raubte, wie er seine Beute an die Bauern weitergab und wie diese zum Dank für ihn tanzten und sangen. Und dann der schmähliche Verrat. Eine hübsche Geschichte. Doch Robin kam sie bekannt vor. Hatte er sie nicht in einem Film gesehen?
»Woran lag es eigentlich, dass sich die Mafia später zu einer Verbrecherorganisation entwickelte? – Und dass sie so große Macht erringen konnte?«
Gattuso schien zu überlegen. »Ja, woran lag es? Ich glaube, es lag an der besonderen Einstellung der Sizilianer. Eine Grundlage war die absolute Treue gegenüber der Familie, der Gehorsam, den die Jüngeren den Älteren schuldig waren. Das war hier, auf dieser Insel, die immer wieder unter der Herrschaft fremder Eroberer stand, ausschlaggebend für das Überleben. Und die zweite Voraussetzung war das Prinzip, den eigenen Gesetzen zu folgen oder, anders ausgedrückt, sich nach keinen Gesetzen zu richten, die einem irgendein Außenstehender aufzwingen wollte.«
Das leuchtete Robin ein. Wie leicht sich manche schwierigen Fragen beantworten ließen! Und dieser einfache Mann konnte es verständlich machen. Nun gut: Das war die Vergangenheit. Doch wie stand es mit der Gegenwart?
»Wie ist es dann mit der Mafia weitergegangen?«, fragte Robin. »Man hört so viele Gerüchte, aber nichts Genaues. Gibt es denn hier noch Angehörige der Mafia? Sind sie noch aktiv?«
Gattuso wischte ein Weinblatt beiseite, das auf den Tisch geflattert war, und nahm dann einen Schluck aus seinem Glas. »Es waren ein paar große Paten, die die Zeichen der Zeit erkannten und die Mafia in die USA überführten. Was sollte eine Organisation wie die Mafia in diesem vergessenen Winkel der Erde? Ein armes Land, vom Aussterben bedroht? Nein, nein, erst in Amerika begann der große Aufschwung. Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten!«
»Aber damit war es doch bald zu Ende.« Es war keine Feststellung, sondern eine Frage.
»Nur für die, die sich erwischen ließen, für die Unvorsichtigen, die Übereifrigen, die Dummen. Die anderen hatten die Strategie der Integration. Das dritte Standbein, das den sicheren Halt garantiert. Es ist das Ansehen, das Macht hervorruft – das macht einen unangreifbar.«
Eine Gruppe von Menschen, auf die man sich uneingeschränkt verlassen konnte. Dazu die Möglichkeit, ohne Rücksicht auf Regeln, Vorschriften und Gesetze handeln zu können. Das konnte auch heute noch ein Schlüssel zum Erfolg sein. War es so? Gattuso schien gern bereit, sein Wissen an den Mann zu bringen, und so durfte Robin mit weiteren Auskünften rechnen – auf viel angenehmere Weise als bei Recherchen mit der Datenbank. Es war ein wunderbarer Ort, um zu plaudern.
»Heißt das, dass solche Organisationen noch existieren?«
»Aber ja, sie sind inzwischen fest etabliert. Und nun sind sie nicht mehr verfemt, sondern gelten als ehrenwert. Es sind gebildete Leute, Studierte. Indem sie sich anpassten, erwarben sie einen Rang in der Gesellschaft. Und der macht sie unangreifbar.«
Robin wandte den Kopf und blickte auf die malerische Umgebung. Die windschiefen Häuser, die blaugrün gestrichenen Fensterläden, die tönernen Töpfe mit sattroten Begonien. »Und welche Rolle spielt diese Insel, das alte Stammland der Mafia? Gibt es in Sizilien noch Verbindung mit diesen im Ausland geborenen Landsleuten?«