Gerade wollte er die erste der zur Haustür führenden Stufen betreten, da ergriffen ihn von hinten zwei kräftige Arme und legten sich ihm um Schulter und Hals, zogen ihn mit einem Ruck ins Gebüsch, und als er einen Schrei ausstoßen wollte, presste sich schon eine Hand auf seinen Mund.
»Ganz ruhig … wir kennen uns doch – ich will dir nur etwas mitteilen. Wenn du ruhig bleibst, lasse ich dich los.«
Robin versuchte zu nicken, was ihm aber in dieser Situation nur schwer gelang. Doch der Angreifer deutete seinen Versuch richtig und ließ los. Robin drehte sich um: Vor ihm stand ein hünenhafter Mann, ein wenig älter als er, mit schütterem, aber auffällig langem Haar. Das Gesicht war im Schatten der Sträucher nicht zu erkennen, doch nun trat der Fremde etwas näher an die Hausmauer heran, wo ihn das reflektierte Licht erreichte.
Ja, ging es Robin durch den Kopf, ich habe ihn schon einmal gesehen. Aber bei welcher Gelegenheit? »Was willst du von mir?«, fragte er.
»Du erkennst mich nicht? Ich bin Henrik. Wir haben heute telefoniert …«
Jetzt ging Robin ein Licht auf. Tatsächlich, es war der Kollege, dessen Gesicht er am Bildschirm gesehen hatte, als er sich nach Angelo erkundigte.
»Was fällt dir ein, mich so zu erschrecken«, sagte Robin, jetzt nicht mehr ängstlich, aber ziemlich verärgert.
Henrik trat wieder ins Dunkel und bedeutete Robin, seinem Beispiel zu folgen.
»Ich will dir Ärger ersparen«, erklärte er. »Es geht um Angelo. Ich habe mich nämlich auch einmal nach ihm erkundigt, und das hatte unangenehme Konsequenzen. Darum will ich nicht, dass mich jemand sieht.«
»Das kommt mir recht merkwürdig vor«, antwortete Robin, doch dann unterbrach er sich. »Willst du nicht zu mir hereinkommen? Ich werde das Licht über der Tür ausschalten, dann ist es dunkel, niemand kann dich erkennen.« Er hatte sich daran erinnert, dass er mit Henrik vor Jahren schon einmal in einem Fall von Scheckkartendiebstahl zusammengearbeitet hatte. Er war kooperativ und nett.
Henrik überlegte kurz. »Einverstanden.«
Wenig später saßen sie in einem Raum mit Kochnische, der einfach, aber wohnlich eingerichtet war. Robin hatte sich die Möbel aufgrund seines Psychogramms zusammenstellen lassen und war mit dem Erfolg zufrieden. Erzog die Vorhänge zu, regelte die Beleuchtung hoch und holte aus dem Eisschrank eine Flasche mit Tomatenwein, der gerade in der Werbung als besonders gesund angepriesen wurde.
»Ich muss dich noch einmal um Entschuldigung bitten«, erklärte Henrik. »Ich wollte dich möglichst schnell warnen …«
»Warum hast du nicht angerufen?«
»Gespräche, die über das öffentliche Netz geführt werden, können abgehört werden. Und schließlich haben wir uns beide verdächtig gemacht.«
Robin versuchte nicht, sein Erstaunen zu verbergen. »Wieso verdächtig …? Das verstehe ich nicht.«
»Ich auch nicht«, sagte Henrik. »Aber es muss mit Angelo zusammenhängen. Er ist vom letzten Außendiensteinsatz nicht zurückgekommen, das ist jetzt schon über ein Jahr her. Vor einigen Wochen habe ich mich im Sekretariat nach ihm erkundigt. Dort konnte man mir keine Auskunft geben. Am nächsten Tag wurde ich einem strengen Verhör unterzogen.«
»Das habe ich auch schon hinter mir«, warf Robin ein und erzählte knapp, was er erlebt hatte, als er das Bürogebäude verlassen wollte.
»Also hatte ich Recht – es tut mir leid, dass ich zu spät gekommen bin. Aber es bestätigt meinen Verdacht, dass Angelos Verschwinden offenbar um jeden Preis geheim gehalten werden soll. Ich würde dir raten, diese Geschichte möglichst rasch zu vergessen. Wenn es nötig ist, dann wird sich die Personalabteilung sicher darum kümmern.«
Sie saßen eine Weile still beisammen und tranken Wein.
»Ich war mit Angelo nicht gerade befreundet«, sagte Henrik ein wenig später, »doch in einigen Fällen haben wir gemeinsam gearbeitet. Ich mochte ihn gern, er war immer sehr freundlich, vielleicht manchmal etwas selbstbewusst, aber ich kam gut mit ihm aus. Andererseits gibt es keinen Grund, mich zu weit aus dem Fenster zu lehnen – ich habe die Sache auf sich beruhen lassen. Trotzdem interessiert es mich, was dahintersteckt. Als du heute angerufen hast, habe ich wieder daran denken müssen. Ich dachte mir, dass du vielleicht mit ihm befreundet warst und mehr über sein Verschwinden weißt.«
»Wir haben uns in der Zeit unserer Ausbildung kennen gelernt«, sagte Robin. »Wir waren oft beisammen. Ich habe ihn ein bisschen bewundert, er war einer der Besten des Lehrgangs – und ich war stolz darauf, dass er sich mit mir abgegeben hat. Wir spielten Gruppenschach und waren in derselben Mannschaft beim Düsenski – das war damals groß in Mode. Nachher habe ich den Kontakt mit ihm verloren.«
»Aber es könnte doch sein, dass du aus dieser Zeit noch etwas weißt, was uns auf seine Spur bringen könnte …«, insistierte Henrik. »Hatte er Verwandte? War er mit einem Mädchen liiert? Vielleicht gab es auch Freunde, mit denen er weiterhin in Verbindung stand?«
Robin dachte kurz nach, dann sagte er: »Wir haben uns kaum über private Dinge unterhalten. Ich bedaure, aber ich kann dir nicht helfen.«
Sie rauchten noch eine Menthol-Zigarette, dann verabschiedete sich Henrik und ließ einen sehr nachdenklichen Robin zurück. Er hatte nicht die Absicht, ein Risiko einzugehen, aber – und dessen war er sich bewusst – jetzt war er neugierig geworden.
Flug über das Eismassiv
Es war nicht anders als bei meinen letzten Touren, bei denen es mir um Rekorde ging. Die Suche nach Sponsoren, Verträge mit Medienanstalten, sorgfältige Planung der Ausrüstung. Wie bei allen kommerziellen Unternehmungen der letzten Jahre hatte die Agentur Interact Adventure Tours die Organisation übernommen. Sie hat den Namen Sylvan Caretti zu einem Markenzeichen gemacht.
Diesmal hatte ich mir die Arktis vorgenommen. Über das Ziel hatte ich mit meinen Betreuern ausgiebig diskutiert, und schließlich hatten wir uns auf den Nordpol geeinigt. Zuerst war ich dagegen, denn dieser Ort ist heute für jeden Touristen erreichbar, wenn ihn die Kosten nicht abschrecken. Der Besuch mit atombetriebenen Eisbrechern hat schon Tradition, und auch Flugreisen mit Helikoptern werden laufend angeboten. Aber vielleicht sind es gerade diese Besucher, die den Nordpol populär gemacht haben, und es gibt immer wieder Abenteurer, die das ausnutzen und ihn mit Motorschlitten, auf Skiern oder auf traditionelle Art mit Hundeschlitten zu erreichen versuchen – und schon erreicht haben. Auch der Weg über das Wasser wird immer beliebter; im Zuge der weltweiten Erwärmung bleibt das Polarmeer selbst im Winter oft völlig eisfrei, und manche Extremsportler haben schon versucht, den Pol mit Ruderbooten und Kajaks zu erreichen.
Kurz und gut – wir haben uns für den Nordpol entschieden, und zwar für einen reinen Fußmarsch über das Packeis, allein und ohne technische Fortbewegungsmittel. Wir beabsichtigten, der Route von Gerald Berrenger zu folgen, der etwas Ähnliches vor zehn oder zwölf Jahren versucht hatte. Er zog mit zwei jungen Eiskletterern los und wurde aus der Luft versorgt. Trotzdem ist das Unternehmen kläglich gescheitert: Alle drei sind während eines Unwetters verschollen, bis heute wurden keine Spuren gefunden, der Grund für dieses Drama blieb ungeklärt. Vielleicht ein Orkan, vielleicht ein Eisbruch, jedenfalls etwas, das mit den extremen Witterungsverhältnissen dieser Gegend zusammenhing. In den letzten Jahren war das Wetter völlig unberechenbar geworden. Trotz aller modernen Technik – wenn die Naturgewalten zuschlagen, ist der Mensch immer noch klein und hilflos.
So ging es bei meiner Tour also auch darum, nach Spuren und Materialien zu suchen, die von diesem missglückten Unternehmen zurückgeblieben sein mochten, und damit vielleicht zur Aufklärung beizutragen. Bei der geplanten Suche wollte ich mich auf die gefunkten Daten und Fotos der Berrenger-Expedition stützen, vor allem auf die letzten, die noch empfangen wurden. Das war ein Aspekt, der meine Aktion für die Medien interessant machte, und darauf kam es meinen Beratern von der Agentur an.