Das war so ein Gedanke, der Robin gekommen war. Die alten Stätten der ursprünglichen Heimat … eine sentimentale Beziehung zur eigenen Vergangenheit … Lag nicht eine gewisse Logik darin, wenn sie sich von Zeit zu Zeit hier trafen, wenn es etwas zu besprechen gab? Vielleicht war es ein solches Zusammentreffen, das Gorosch hierher reisen ließ?
Doch Gattuso schüttelte den Kopf. »Einige Jahre gab es noch feste Bindungen. Kein Sizilianer kann seine Wurzeln verleugnen – so haben es noch viele Auswanderer der ersten Stunde gehalten. Aber ihre Kinder und Kindeskinder – diejenigen, die nicht hier geboren sind? Können sie noch so etwas wie ein Heimatgefühl empfinden?«
Robin konnte seine Frage selbst beantworten. »Diese Verbindung besteht also heute nicht mehr so wie früher.«
»Die junge Generation hat die alten Werte vergessen. Sizilien bedeutet ihnen nichts mehr. Es ist eine Schande.«
Sie hatten den Rotwein ausgetrunken. Gattuso rief nach einer zweiten Karaffe Wein. Ein Mädchen mit langen schwarzen Zöpfen brachte sie. Er füllte ihre Gläser, und sie prosteten sich zu.
Ein Glück, dass ich auf jemand getroffen bin, der sich auskennt, dachte er. Der Alte war ein netter Mann.
»Es ist interessant, Ihnen zuzuhören. Sie kennen sich in der Geschichte aus.«
Gattuso freute sich über dieses Lob. »Ich war Lehrer. Ich habe Geschichte unterrichtet. Und Geographie. Und ich habe viel gelesen.« Seine Stimme war ein wenig undeutlich geworden, aber Robin konnte ihn trotzdem gut verstehen.
»Auch ich habe einiges gelesen – um mich auf die Reise vorzubereiten. Aber Sie wissen eine Menge, was nicht allgemein bekannt ist.« Er fühlte eine weiche Berührung an den Waden – es war eine braun gesprenkelte Katze, die ihn umschmeichelte.
»Es sind keine Geheimnisse. Wer es wissen will, kann es herausfinden.«
»Und wieso wird es in der Öffentlichkeit verschwiegen?«
Jetzt lächelte der Alte. »Ganz einfach: Auch die Nachrichten sind in den Händen der Organisation: Rundfunk, Presse, Info-Dienste, verstehen Sie?«
Robin starrte in das Weinglas. Immer wenn Gattuso zur Unterstreichung seiner Worte mit der flachen Hand auf den Tisch schlug, schwappte die purpurrote Flüssigkeit hin und her, und der Reflex einer Lampe, die oben am Holzgitter befestigt war, geriet in heftige Bewegung. Die Katze war auf Robins Knie gesprungen und hatte es sich dort bequem gemacht.
Was Gattuso da erzählte, war etwas verwirrend, und Robin musste sich konzentrieren, um die Zusammenhänge zu erfassen. Gewiss, es lag in der Hand der Medieninstitute, was sie dem Publikum mitteilten und was nicht – das war logisch. So dauerte es eine Weile, ehe Robin auf eine entscheidende Frage kam, die sich daraus ergab. Er stellte sie, und es war ihm gleichgültig, ob sein Gesprächspartner daraus vielleicht einen Schluss hinsichtlich des wahren Grundes seines Besuchs ziehen mochte: »Halten Sie es für möglich«, fragte er, »dass die höchsten Repräsentanten der Ehrenwerten Organisation hier, in Corleone, zu einer geheimen Besprechung zusammentreffen?«
Das schien Gattuso sehr zu belustigen. »Völlig unmöglich«, antwortete er dann, und in seinem Gesichtsausdruck deutete sich eine feste Überzeugung, aber auch ein gewisses Bedauern an. »Es gäbe keinen Grund, und jede Sentimentalität liegt dieser Generation völlig fern.«
Robin wurde plötzlich müde … War es die Hitze, lag es am Wein, oder war es die Enttäuschung? Wenn es stimmte, was der alte Mann angedeutet hatte, dann war Robin hier am falschen Ort. Ein Irrtum, eine Fehlinterpretation. Oder waren sie getäuscht worden?
Aber war der alte Mann überhaupt glaubwürdig? Er wollte Giuliano persönlich gekannt haben. Wenn das stimmte, dann müsste er weit über 150 Jahre alt sein, also war das wohl gelogen. Und seine Schilderungen: die guten Taten des edlen Räubers. Es hatte geklungen, als wäre Gattuso dabei gewesen: so lebendig, so farbig, als hätte er es selbst beobachtet. Irgendwie hatte das Ganze unecht geklungen, inszeniert, theatralisch … Aber woher mochte er dann seine Kenntnisse haben?
Heute würde Robin nicht weiterkommen. Er sagte, dass er müde sei und sich ausruhen wolle. Dabei wies er auf den Wein, den er nicht gewohnt war. Gattuso schien es ihm nicht übel zu nehmen. Er hatte nichts dagegen, dass Robin die Rechnung beglich, und begleitete ihn noch bis zu den Stiegen, die Robin zurück in das Touristenviertel führten. Ein Mädchen sprach ihn an, als er den Weg zurück zum Hotel suchte, doch er schüttelte nur den Kopf und war froh, als er feststellte, dass er bereits am Platz hinter dem Tor angekommen war …
Zehn Minuten später lag er im Bett, und selbst der von draußen hereindringende Lärm einer Kavalkade von Mopeds vermochte ihn nicht am Einschlafen zu hindern.
Am nächsten Morgen wachte Robin mit schmerzendem Schädel auf. Er konnte sich nicht überwinden aufzustehen – und war um eine Erfahrung reicher: Künftig würde er beim Genuss von naturbelassenem Wein zurückhaltender sein.
Es war angenehm, noch eine Weile im Bett liegen zu bleiben. Im Raum war es dämmrig, durch die Vorhänge fielen nur schmale Streifen Licht, und die Geräusche von außen waren gedämpft. Sein Zimmer war ein Refugium, das ihn vor allem Grellen und Lauten schützte und in dem selbst die Zeit nur langsam verrann.
Robin nickte noch einmal ein … Es war so etwas wie ein schlechtes Gewissen, das ihn aus dem Schlaf riss und an seine Aufgabe erinnerte. Er hatte Mühe, sich an den gestrigen Abend zu erinnern. Die Gaststätte im äußeren Stadtteil, der alte Mann, der so viel geredet hatte … Robin wusste nicht mehr, wie er zurück ins Hotel gekommen war, dagegen erinnerte ersieh noch gut an das, was er vom alten Lehrer Aurelio Gattuso gehört hatte. Und wenn diese Informationsquelle auch nicht unbedingt verlässlich schien, so hatte er doch einiges erfahren, was beachtenswert schien: Es sollte sie also wirklich geben, die Erben der Mafia. Was er nun darüber wusste, erschien logisch, doch Robin hatte jetzt keine Lust, sich damit zu beschäftigen. Viel wichtiger war jetzt die bestürzende Einsicht, dass seine Reise ihren Zweck verfehlt hatte. Hier konnte er noch lange auf Gorosch warten. Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als abzureisen. Das musste er so rasch wie möglich klären.
Robin ging ins Bad und drehte den Hahn für kühles Wasser auf, aber das, was er sich über den Kopf rinnen ließ, war eher lauwarm. Immerhin – jetzt fühlte er sich schon etwas besser. Nur seine Zunge war belegt. Er spülte den Mund aus und putzte sich gründlich die Zähne.
Dann holte er sein mobiles Miniphon aus der Jackentasche und rief Josz an. Seine Stimme war belegt, als er die peinliche Einsicht über seinen Aufenthalt in Corleone eingestehen musste.
»Ich habe auch eine schlechte Nachricht«, antwortete Josz, bevor Robin mit weiteren Erklärungen beginnen konnte.
»Vielleicht ist es dieselbe«, sagte Robin und erzählte dann ausführlich von den Ereignissen des gestrigen Tages und von den Gründen, die ihn am Sinn seiner Reise zweifeln ließen.
»Ich kann es kürzer machen – man hat Gorosch bei seiner Ankunft in den USA beobachtet: Kennedy Airport. Er hat eine I-Card mit falschem Namen benutzt – perfekt gefälscht. Es stimmt also: In Corleone wird er nicht auftauchen.«
»Was können wir tun?«
»Nichts. Wir haben seine Spur verloren. Komm zurück. Zumindest hattest du zwei schöne Urlaubstage.«
Schöne Urlaubstage! Plötzlich war der Schmerz in Robins Schädel wieder da. Aber er ging nicht auf den unbeabsichtigten Spott ein und versprach, sich unverzüglich auf den Rückweg zu machen. Bevor er zu seinem Auto zurückkehrte, blieb er an einem der Stände stehen, um einen Sonnenschutz für den Kopf zu kaufen. Er musste nehmen, was angeboten wurde, und so kam es, dass er mit einem angeblich originalen Mafia-Filzhut auf dem Kopf nach Palermo zurückfuhr.