Auf meine Bitte hin hatte mir Ellen einige zusätzliche Informationen über die hier anwesenden Diplomaten geben können. Die hier auftretenden Repräsentanten der einzelnen Wirtschaftszweige wurden mit ihrer Rolle für jeweils zwei Jahre betraut, wobei nach und nach alle Länder berücksichtigt werden mussten. Nun hatten aber bestimmte Wirtschaftsaktivitäten in manchen Ländern nur untergeordnete Bedeutung, so dass in der Gruppe der Delegierten auch solche von mangelnder Kompetenz vertreten waren. Außerdem waren die Eigeninitiativen dieser Leute stark eingeschränkt: Sie hatten den Weisungen der internationalen Verbände zu folgen. »Genau genommen sind es Strohmänner«, meinte Ellen.
Als Quintessenz meiner Eindrücke legte ich eine Liste an, in die ich alles eintrug, was mir an den Delegierten aufgefallen war – von den körperlichen Merkmalen bis zu den charakterlichen Eigenschaften, soweit sie sich aus ihrem Benehmen ableiten ließen.
Liste der Teilnehmer
Owen Downfield (England) – Banken
klein, hochaufgerichtet, weißhaarig,
geht am Stock
selbstbewusst, starrsinnig, meditiert
(und ist dann nicht ansprechbar)
Noel Bonfrère (Frankreich) – Schwerindustrie
klein, rundes Gesicht, gewelltes Haar
unangenehm charmant,
zeigt Familienfotos herum
Vera Cherkoff (Russland) – Energie und Verkehr
hager, knochig, früher Läuferin,
trägt immer ihre Olympia-Medaillen
schweigsam, undurchsichtig, wenig kompetent
Lasse Olfsson (Schweden) – Militär, Polizei
groß, markantes Kinn, blond gefärbt
ungeschlacht, lacht peinlich laut,
hält sich für witzig
Alvaro Mir (Argentinien) – Gewerkschaft
eingebildet, mittelgroß, redet viel,
wechselt ständig seine zwei Brillen
gibt sich revolutionär,
tritt stets mit Kampfjacke auf, unhöflich
Jiang Jafei (China) – Nahrung, Chemie
Stehfrisur, stämmig, trotzdem wendig,
spricht kein Englisch, benutzt Translator,
von den anderen isoliert
Lester Hawk (USA) – Kommunikation
groß und gebeugt, hohe Stirn,
freundlich
Leiter der World Wide News,
spricht oft von seinem Harvard-Studium
Jerome Mangalt (Sudan) – Koordinator
schwarz, dunkle Augen,
scheint sich diskret zu schminken,
elegant gekleidet
war Fernsehmoderator, schrieb ein Buch über Wirtschaftspolitik
In dieser Nacht, der Nacht vor dem Beginn der Sitzungen, hatte ich schlecht geschlafen. Immer wieder waren mir Zweifel darüber gekommen, ob ich nicht bei meinen Vorbereitungen etwas übersehen haben könnte. Trotzdem war ich am Morgen hellwach und wünschte mir nichts anderes, als dass die Verhandlungen so bald wie möglich beginnen würden …
Als es endlich so weit war, saß ich an der DigiBox und überzeugte mich davon, dass ich eine technisch einwandfreie Übertragung hatte. Im Übrigen funktionierte die Aufzeichnung auch ohne mich, und nach einer Weile beschloss ich, mich tagsüber im Haus umzusehen und die Gespräche erst in den Nächten abzuhören. Da bekam ich wieder Gelegenheit, mich zu wundern, denn auch hierbei ging es zu wie in einem Verein für Kaninchenzucht; die Leute hielten lange, inhaltsleere Reden, redeten aneinander vorbei und kamen kaum voran.
In der Nacht nahm ich mir die ersten Aufzeichnungen vor. Was ich da zu hören bekam, war enttäuschend: Es hatte nur wenig Bezug zu dem, was ich erwartet hatte, und daher werde ich in mein Manuskript nur das Wesentliche aufnehmen.
Eröffnung der Konferenz (Ausschnitte)
Jerome Mangali (Auszug aus der Begrüßungsansprache): … Zwei Jahre Vorbereitungen waren nötig, bevor wir diese Konferenz einberufen konnten. Ich bedanke mich speziell bei unserem Kollegen Lester Hawk, der für die begleitenden Medienaktionen sorgte und im Übrigen auch das Kommunikationssystem, das uns hier im Haus zur Verfügung steht, organisiert hat.
Das gilt vor allem für den vergangenen Tag und für die Zeit danach, wenn die Ergebnisse vorliegen. Wie wir übereinstimmend beschlossen haben, sind während der Konferenz alle Verbindungen mit der Außenwelt unterbrochen. Natürlich sorgen wir für eine umfassende Dokumentation – auch sie liegt in den Händen von Lester Hawk. Wir haben uns ja in diesen entlegenen Winkel der Erde zurückgezogen, damit wir völlig ungestört und unbeeinflusst arbeiten können …
… Ich komme noch einmal kurz auf die Thematik der Konferenz zurück, auf die Situation, die nicht nur eine engere Zusammenarbeit innerhalb der Wirtschaftssparten verlangt, sondern auch die Verbindung der verschiedenen Wirtschaftssparten untereinander. Wie jedermann weiß, stehen sie in Abhängigkeit voneinander, so dass eine Koordination der heute oft noch divergierenden Kräfte dringend notwendig erscheint. Es wird nun darauf ankommen, wie weit wir uns diesem Ziel nähern. Als Nächstes werden wir eine Tagesordnung zusammenstellen, die mit den Vorschlägen und Anträgen der Teilnehmer beginnt. Bekanntlich hat jeder von Ihnen die Vollmacht, ohne Rückfragen Entscheidungen zu treffen und sich mit je einer Stimme für oder gegen die gestellten Anträge auszusprechen. Um spätere Unzufriedenheit und Proteste zu vermeiden, sind für die Annahme alle Stimmen nötig … Unsere Kollegin Cherkoff hat sich gemeldet – ich darf ihr das Wort erteilen.
Vera Cherkoff: Entschuldigen Sie die Unterbrechung, doch ich muss auf eine geringfügige Ungenauigkeit unseres Kollegen Mangali hinweisen. Es stimmt, dass jeder der Kollegen mit einer Stimme betraut ist, allerdings mit einer Ausnahme: Da ich zwei Wirtschaftssparten vertrete, nämlich einerseits Energie und andererseits Verkehr, verfüge ich über zwei Stimmen. Ich bitte, das ins Protokoll aufzunehmen.
Jerome Mangali: Es handelt sich keineswegs um einen Irrtum, verehrte Kollegin. Sie haben übersehen, dass vor einem Jahr die Sparten Energie und Verkehr zusammengelegt wurden, und das bedeutet, dass …
Die lang dauernde Diskussion, die sich über diese Forderung entwickelte, brauche ich hier nicht wiederzugeben. Dem Ansinnen der Russin wurde übrigens nicht stattgegeben.
Ich habe diese Anfangssequenz nur als typisches Beispiel für den Verlauf der Konferenz an den ersten beiden Tagen aufgenommen – ein Verlauf mit ermüdenden Debatten über Nebensächliches, die von einigen der Teilnehmer mit großem Eifer geführt wurde, die anderen aber mit wachsender Unruhe erfüllte. Mangali wies mehrfach darauf hin, dass man unbeschränkte Redezeiten vereinbart hatte und sich eine Konzentration auf das Hauptthema der Konferenz nur erreichen ließe, wenn sich die Teilnehmer kurz fassten – woran sich aber niemand hielt.