So dauerte es bis weit in den folgenden Tag hinein, bis endlich die Liste der Anträge aufgestellt war. Mehrere Ideen betrafen jene Länder, die sich bisher der Globalisierung entzogen haben.
Noel Bonfrere: Ich weise auf eine erfreuliche Tatsache hin: In unseren Wirtschaftssystemen sind schon mehr als 90 Prozent aller Länder vereinigt. Diejenigen, die sich bisher der Globalisierung entzogen haben, sind politisch bedeutungslos und wirtschaftlich schwach. Trotzdem erweisen sie sich als Unruheherde in unserem System. Da aus dem politischen Aspekt heraus wenig Hoffnung auf eine engere Kooperation mit diesen Staaten besteht, bietet es sich an, dieses Ziel über die Ebene der Wirtschaft zu erreichen. Ich beantrage, mit diesen Staaten Verhandlungen aufzunehmen: mit dem Ziel einer Einbeziehung der entsprechenden Wirtschaftsverbände in unser System. Da wir hier frei reden können, füge ich noch eine Bemerkung hinzu, die unter uns bleiben sollte: Um unser Ziel zu erreichen, sollten alle jene Druckmittel angewandt werden, die in der Wirtschaft üblich sind: Embargo, Dumping, Börsenaktionen … Es wird zwar zunächst einiges kosten, aber später Gewinn erbringen. Und es dient letztlich einem guten Zweck.
Dieser Vorschlag führte zwar schon recht nahe an die Grenze des Unerlaubten, doch mit einer Verschwörung, die die Konferenz gefährden könnte, hatte er wohl nichts zu tun. Abgesehen davon dauerte es wieder unerträglich lange, bis sich die Delegierten zu einer Zustimmung durchrangen. Diese ermüdenden Auseinandersetzungen führten bei mir zu einem gewissen Überdruss, einer Reaktion der Langeweile, die dazu angetan war, meine Aufmerksamkeit zu beeinträchtigen. Als ich mir dessen bewusst geworden war, versuchte ich, meine Wachsamkeit zu steigern. Aus der Apotheke holte ich mir ein paar Tabletten mit einem Mittel zur Steigerung der Aufmerksamkeit und konzentrierte mich von nun an nicht mehr so sehr auf den Inhalt der Debatten, sondern suchte im Umfeld nach Anzeichen für mögliches Unheil.
Es war am frühen Nachmittag des zweiten Tages, als plötzlich das Bild meiner im Saal versteckten Kamera erlosch. Ich erschrak: War es ein Defekt? Oder war meine Anlage entdeckt worden? Vielleicht suchte man schon nach mir? Eilig verließ ich mein Zimmer und lief zum Konferenzsaal. Aus dem Orientierungsplan, den mir Ellen überlassen hatte, war die genaue Lage des Regieraums zu ersehen, von dem aus sich die Vorführung von Bildern oder Tonsequenzen steuern ließ. Es war eine überhöht eingebaute Kabine, die an den rückwärtigen Teil des Saals grenzte. Da während der Diskussionen der Delegierten keine Bildvorführungen geplant waren, hielt sich dort niemand auf. Die schmale Tür in einem Seitengang war versperrt, aber sie sprang auf, als ich meinen Chip mit dem elektronischen Universalschlüssel an den Sensor legte.
Ich stieg die paar Stufen hinauf und kam an ein breites Fenster: Das Glas war leicht getrübt, vermutlich war es so präpariert, dass es das Licht nur in einer Richtung durchließ; trotzdem hatte ich eine gute Sicht in den Saal und konnte das Geschehen sogar besser beobachten als von meinem Zimmer aus. An der Seitenwand hing nach wie vor das Bild, in dessen Rahmen ich meine Kamera eingesetzt hatte – und mit Erleichterung erkannte ich auch gleich den Grund für den Abbruch der Übertragung: Da hatte jemand, dem es wohl zu heiß geworden war, seine Jacke an einer Ecke des Rahmens aufgehängt. Ich merkte, dass meine Knie weich geworden waren, ich lehnte mich an die Wand – mein Herz schlug noch immer heftig, und ich atmete einige Male tief ein und aus, um die Erregung abzubauen.
Freilich: Gegen die aufgehängte Jacke konnte ich im Moment nichts unternehmen. Ein fataler Zufall, das Ganze! Was konnte ich tun? Es kam mir in den Sinn, während der nächsten Pause in den Saal zu gehen und den Besitzer des Kleidungsstücks zu bitten, es vom wertvollen Bild zu entfernen. Aber diese Idee verwarf ich so schnell, wie sie mir gekommen war – warum sollte ich unnützes Aufsehen erregen?
Da bot es sich eher an, die Beobachtung einfach von hier aus weiterzuführen. Ich setzte mich an den Schalttisch und fand mühelos den Druckknopf zum Einschalten der akustischen Übertragung. So war ich über die Dinge, die dort unten abliefen, informiert und konnte mich, wenn sich das Ende der Sitzung abzeichnete, rechtzeitig aus dem Staub machen.
Nachdem ich einige Zeit still beobachtet hatte, begann sich bei mir wieder die schon vorher empfundene Enttäuschung einzustellen, und ich ertappte mich dabei, dass ich trotz meiner Tabletten in einen dösenden Zustand absackte. Gegen Langeweile wegen erzwungenen Nichtstuns konnte ich mich nur schwer wehren. Doch dann wurde ich plötzlich hellwach: Es war der chinesische Delegierte, an dem mir etwas auffiel. Wenn er in die Debatte eingriff, entstanden nämlich hin und wieder kleine Wartezeiten, solange der Translator die Ausführungen seiner Kollegen ins Chinesische übersetzte; Jafei machte eine erklärende und zugleich entschuldigende Geste, indem er mit der Hand auf sein mit einer Hörkapsel versehenes Ohr deutete. Zunächst wusste ich nicht, was mich dabei störte, aber dann kam ich doch darauf: Es war der zeitliche Ablauf, der nicht stimmte. So waren für die Übertragung einer einfachen Zustimmung des Gesprächspartners oft mehr als zehn Sekunden nötig.
Der Chinese hatte den Gesprächen bisher ohne große Anteilnahme zugehört, und so wirkte es ein wenig seltsam, dass er sich gerade jetzt so eifrig in die Diskussion einschaltete. Dabei ging es nur um den wenig bedeutenden Antrag des Gewerkschaftlers Alvaro Mir, den Ort der Versammlung zu wechseln. Anstatt des großen Saals schlug der wackere Revolutionär das gemütlichere Dachcafe vor, und Jafei brachte alle möglichen Gründe dagegen vor.
Je länger ich Jafei beobachtete, umso sicherer wurde ich, dass da etwas nicht stimmte. Wenn es sich aber nicht um eine normale Übersetzung handelte, dann konnten es eigentlich nur Informationen anderer Art sein, die der Chinese von unbekannter Seite bekam … Also ein Nachrichtensystem, das raffiniert getarnt war! Wenn das so war, dann lag auch der Schluss nahe, dass Jafei in Wirklichkeit Englisch verstand und keinen Translator brauchte. Wie könnte ich das bestätigen?
Bald fiel mir eine ganz einfache Möglichkeit ein. Zwischen dem Ende der Sitzung und dem Abendessen gab es eine einstündige Pause, in der die meisten Diplomaten ihre Räume aufsuchten, um auszuruhen oder sich für den Abend umzuziehen. Dann rief ich bei Jafei an – er war da und meldete sich. Ohne ein Bild einzuschalten, sagte ich auf Englisch: »Hier Miller von der Rezeption. Herr Mangali lässt Sie bitten, möglichst rasch in den Presseraum neben dem Foyer zu kommen. Es gibt etwas sehr Eiliges zu besprechen.« Dann legte ich auf. Wenig später hatte ich mich in einer der Sitzecken im Foyer niedergelassen und wartete. Und tatsächlich: Wenig später kam der Chinese und verschwand im Presseraum. Bevor er wieder herauskam, hatte ich mich davongemacht.
Jetzt war ich erst recht neugierig geworden und wollte mehr wissen. Was waren das für Nachrichten, die dem Chinesen übermittelt wurden? War es möglich, sie abzuhören? Nach kurzem Überlegen kam ich auf eine mir selbst etwas verwegen erscheinende Methode. Dazu brauchte ich meine in Nanotechnik gebauten Abhörkapseln in der Form von Kügelchen, so groß wie Salzkörner. Sie waren recht empfindlich, enthielten aber keine Batterien, sondern entzogen die Energie den Wärmeschwankungen der Umgebung. Sie hatten sich schon bewährt, als ich die Gespräche der Politiker in den Sitzgruppen des Foyers verfolgt hatte. Diese musste ich nur möglichst nahe an Jafeis Körper anbringen, um seine Gespräche mitzuhören. Die Gelegenheit dazu würde sich beim Abendessen bieten.
Der Speisesaal lag im ersten Stock und erstreckte sich über zwei Etagen. In Höhe der zweiten gab es einen balkonartigen, nur mit einem Geländer abgetrennten Rundgang, von dem aus man auf die großzügig verteilten Tische hinuntersehen konnte. Von dort konnte ich die Vorbereitungen für das Essen verfolgen. Ich suchte mir einen Tisch aus, der senkrecht unter der Balkonbrüstung lag, dann ging ich hinunter und mischte mich unter die Kellner. Die Tische waren mit Namensschildern versehen. Ich suchte mir jenes von Jafei und vertauschte es unauffällig mit einem anderen, das auf dem für meine Absicht günstig positionierten Tisch stand.