Nun wieder zurück auf den Balkon! Glücklicherweise reichte der volle Lichtschein der Lampen nicht hier herauf, so dass ich damit rechnen durfte, unbemerkt zu bleiben. Ich hielt mich im Schatten und musste mich vorerst eine Weile gedulden. Ich wartete, bis die Nachspeise serviert wurde. Es gab Vanilleeis mit Streuseln und einen mit Früchten belegten Kuchen. Dann war es so weit, die Speisen standen auf dem Tisch. Bevor die Gäste zugreifen konnten, trat ich ans Geländer und ließ genau über Jafeis Schüssel einige von meinen Nanokapseln fallen. Die Aktion war so berechnet, dass sie in die Eisschüssel fielen und inmitten der Streuseln nicht zu sehen waren. Ob ich mein Ziel getroffen hatte, konnte ich nicht erkennen. Ich beobachtete noch, wie der Chinese zum Löffel griff, dann zog ich mich zurück.
Ich wusste nicht, wann sich die unbekannten Partner des Chinesen wieder melden würden, und das bedeutete, dass ich mich nicht weiter als 20 Meter von Jafei entfernen durfte, denn die Reichweite meiner Kapseln war beschränkt; es musste sich also ein Relais in der Nähe befinden, das die Impulse verstärkte, so dass sie auch noch in größeren Entfernungen aufgenommen werden konnten. Darum suchte ich eine nahe an Jafeis Zimmer gelegene Besenkammer auf und machte es mir auf einigen dort aufbewahrten Decken bequem. Einen Einstecklautsprecher hatte ich im Ohr und ein Relais in der Tasche. Jetzt musste mich wieder auf eine längere Wartezeit einstellen.
Ich konnte nur hoffen, dass Jafei möglichst bald Kontakt mit seinen Partnern aufnehmen würde, denn die Verweilzeit der Kapseln im Körper konnte nicht viel mehr als 24 Stunden betragen, ehe sie wieder ausgeschieden würden.
Eineinhalb Stunden vergingen, die mir recht lang vorkamen, doch schließlich schreckte mich ein Knacken auf. Hoffentlich sprechen sie nicht Chinesisch, schoss mir noch durch den Kopf – und mein Wunsch ging in Erfüllung.
»Ist noch etwas vorgefallen?«, erkundigte sich eine Stimme ohne jede Vorrede. Der Unbekannte sprach ein einwandfreies Englisch. Und ich verstand ihn gut, wenn es auch ein bisschen leise war.
»Nichts, was der Rede wert wäre«, antwortete Jafei. »Noch beim Abendessen das unsägliche Geschwätz, das wir uns den ganzen Tag über anhören mussten. Zuletzt stritten sie darüber, wie sie die Wirtschaft der nicht assoziierten asiatischen und afrikanischen Staaten in die Hände kriegen.«
»Diese lächerlichen Diktatoren sollten doch kein Problem sein, mit denen machen wir kurzen Prozess. Im Übrigen war es gut, dass du die Verlegung der Gespräche in andere Räume verhindern konntest. Das hätte uns nicht in den Kram gepasst.«
»Das war gar nicht so leicht, denn im Konferenzsaal ist es nicht gerade gemütlich. Aber ich konnte die Leute dann doch überzeugen.«
»Wann kommen diese Schwätzer endlich zur Sache? Langsam verliere ich die Geduld. Also Schluss mit diesem Affentheater. Morgen Vormittag wird der Antrag gestellt.«
»Morgen Vormittag, in Ordnung, ich werde ihn informieren.«
»Ich werde wieder zugeschaltet sein, für den Fall, dass du eilig eine Anweisung brauchst.«
»In Ordnung.«
»Dann also …«
Das Gespräch war beendet, an diesem Abend war wohl nichts mehr zu erwarten, und ich konnte mich zurückziehen. Und wenn ich Glück hatte, bekam ich morgen noch etwas zu hören.
So hatte ich zum ersten Mal eindeutige Beweise dafür, dass bei dieser Konferenz etwas faul war. Zwar war nichts Illegales zur Sprache gekommen, einen Antrag konnte jeder stellen, aber zumindest stand nun fest, dass da im Hintergrund noch andere mitmischten, die hier nichts zu suchen hatten. Wo mochte sich der geheimnisvolle Auftraggeber befinden? Jedenfalls war die totale Abgeschiedenheit, die immer wieder betont wurde, durchlässig. Ich war auf den Antrag neugierig, den der Chinese stellen sollte – vielleicht ließen sich daraus weitere Schlüsse ziehen.
Ich ging in mein Zimmer, wo ich eine Nachricht von Ellen vorfand. Ob ich ihr ein wenig Gesellschaft leisten wolle?
Ich sagte spontan zu und ging zu ihr ins Apartment. Sie erzählte mir von ihrem Leben im Hotel, und auch ich hätte gern etwas von mir erzählt. Doch irgendetwas hielt mich zurück.
Sie war klug und sympathisch, eine Frau, wie man sie sich wünscht. Schade, dachte ich – im Moment kann ich nichts für dich tun. Ich habe eine Verpflichtung, die mich voll ausfüllt. Nachher, vielleicht …
Seltsam, über das Leben danach hatte ich mir noch keine Gedanken gemacht. Keine Absichten, keine Wünsche, keine Hoffnungen.
So saßen wir uns eine Weile schweigend gegenüber, es bestand kein Zwang zu reden – es war einfach schön, zusammen zu sein. Und dann überkam mich wieder diese Unrast, wie schon so oft in diesen Tagen. Ich entschuldigte mich mit den Aufzeichnungen, die ich in dieser Nacht noch abhören musste. Dann ging ich.
Allem Anschein nach begann jetzt wirklich die heiße Phase der Veranstaltung. Der Hinweis auf einen Antrag von besonderer Bedeutung hatte mich geradezu elektrisiert. In dieser Nacht hatte ich wenig geschlafen, immer wieder hörte ich die Aufzeichnung des geheimnisvollen Gesprächs an und versuchte, darin irgendwelche Hinweise zu finden. Das gelang mir zwar nicht, aber allein die Tatsache, dass die immer wieder betonte Isolation des Versammlungsortes Lücken aufwies, war als Beweis für einen frechen Schwindel zu sehen.
Es war ja auch bemerkenswert, dass die andere Seite über den Fortgang der Konferenz informiert war, wahrscheinlich war es Jafei, der Informationen darüber herausgab.
Wer waren diese Hintermänner, und was beabsichtigten sie? Und wo befanden sie sich? Wenn man die technischen Gegebenheiten berücksichtigte, so sollten sie sich eigentlich in nächster Nähe aufhalten, denn für eine Übertragung aus größerer Entfernung wäre eine größere Sendeleistung nötig gewesen, und ein solcher Sender wäre aufgefallen. Wer kam dafür infrage? Mein Verdacht fiel sofort auf die Angehörigen des Ordnungsdienstes, die die beste Gelegenheit dazu hatten. Sollten sie ins Komplott einbezogen sein? Prinzipiell kamen aber zweifellos auch Angehörige der Truppe infrage, die sich außerhalb des Hotels auf der Bohrinsel eingerichtet hatten.
Zunächst aber wartete ich mit Spannung auf den Antrag, der da gestellt werden sollte. Und tatsächlich meldete sich gleich zu Beginn Lester Hawk zu Wort. Meine Geduld wurde aber auf die Probe gestellt, denn auf der Liste standen noch einige andere Antragsteller von der letzten Sitzung, so dass ihn Mangali, der Diskussionsleiter, erst für Nachmittag vormerkte. Dann würde er genügend Zeit für seine Ausführungen bekommen.
Da in den nächsten Stunden nichts Besonderes zur Debatte stand, hielt ich es nicht für nötig, mich den Vormittag über in meinem Zimmer aufzuhalten. So trat ich auf den Gang hinaus, verließ den von den Angestellten bewohnten Teil des Hotels und machte mich in den öffentlich zugänglichen Räumen zu schaffen, teils in der Nähe des Konferenzsaals, teils auch in den weitläufigen Gängen der anderen Etagen. Dabei fiel mir nichts Besonderes auf.
Als ich mich gerade in jenem Stockwerk befand, in dem sich der Ordnungsdienst niedergelassen hatte, lief mir Ellen über den Weg.
»Was tust du hier?«, fragte sie erstaunt. »Ich dachte, du bist bei deiner Arbeit im Zimmer.«
Sie hatte meine »Arbeit« so betont, dass ich sofort wusste, was sie meinte. Ich war ihr dankbar für ihre Vorsicht – inzwischen hatte ich meine Unbefangenheit schon längst verloren und fühlte mich von allen Seiten her beobachtet und verfolgt.
Ich erzählte ihr von meinen neuesten Erkenntnissen – seltsam, dass ich ihr so vorbehaltlos vertraute.