Die Nacht war hereingebrochen, die in großen Abständen an den Ballonen hängenden Lampen erzeugten einzelne Lichtinseln und ließen die dazwischen liegenden Strecken in vagem Halbdunkel liegen. Die kühle Luft tat ihm gut, jetzt machte ihm die Kälte nichts mehr aus, er setzte sich eilig in Bewegung.
Robin war tief in Gedanken versunken und achtete nicht auf den Weg. Als er später einmal aufblickte, merkte er, dass er sich am Flussufer befand … dort drüben lag Michèles Haus. War es ein Zufall, dass er hierher geraten war, oder hatten ihn seine Wünsche unbewusst geleitet?
Langsam trat er näher. Die Vorderfront des Gebäudes war nur schwach beleuchtet. Michèles Wohnung lag an der westlichen Seite, und Robin kam auf die Idee nachzusehen, ob dort, im zweiten Geschoss, vielleicht ein Fenster erhellt war.
Robin ging den Gitterzaun entlang, bog um die Ecke und suchte zwischen den Baumkronen hindurch einen freien Blick nach oben. Unwillkürlich legte er dabei die Hände um die Gitterstäbe – und spürte eine jäh aufkommende Hitze an den Handflächen … Und als er erschrocken zurückfuhr, merkte er, dass seine Handflächen am Gitter klebten.
Er versuchte sich loszureißen, doch es gelang ihm nicht, sich zu lösen. Irgendwo im Inneren des Gartens hatte sich ein Summer in Funktion gesetzt, ein rotes Licht blinkte, und dann hörte er Schritte. Und da erschien auch schon ein Hund an der Ecke der Umfassung, er hing an einer Leine, und dann folgte ein uniformierter Mann mit gezogener Waffe.
»Hände hoch, keine Bewegung!« Dieser Befehl wäre unter anderen Umständen zum Lachen gewesen, aber Robin fand die Situation alles andere als heiter.
»Was soll das!«, rief er. »Helfen Sie mir lieber, vom Gitter loszukommen.«
Der Mann nahm den Hund etwas kürzer an die Leine und trat näher. »Was haben Sie hier zu suchen?«
»Ich wollte jemand besuchen.«
»Wen wollten Sie besuchen? Sind Sie angemeldet?«
»Das nicht«, antwortete Robin. »Muss man hier angemeldet sein, wenn man einen privaten Besuch machen will?«
»Das meine ich schon«, sagte der Uniformierte, »immerhin ist es das Haus von Jan van der Steegen, der kürzlich entführt wurde.«
Einen Moment war Robin sprachlos. Das musste er erst verdauen: Das Haus gehörte Jan van der Steegen …
»Ich bin ein Mitarbeiter des Direktors«, sagte er. »Holen Sie meine I-Card aus der Brusttasche und überzeugen Sie sich. Und lassen Sie mich endlich frei.«
Der Uniformierte blickte Robin zweifelnd an, kam dann aber der Aufforderung nach. »Das muss ich prüfen«, sagte er. »Sie müssen noch etwas warten. Verhalten Sie sich ruhig.«
Die Wartezeit kam Robin endlos vor, und er war darüber froh, dass in diesen Minuten, während er da hilflos am Gitter stand, niemand vorbeikam und ihn in seiner peinlichen Lage überraschte. Auf einmal spürte Robin, dass die Verbindung mit dem Gitter nachließ – er konnte die Hände lösen und war wieder frei. Und da kam auch schon der Wachbeamte, diesmal etwas schneller und ohne Hund.
»Tut mir leid«, sagte er. »Aber Sie haben sich verdächtig gemacht, das können Sie nicht leugnen. Und außerdem hätten Sie den piezoelektrischen Zaun nicht berühren dürfen. Haben Sie die Warntafeln nicht gelesen?«
Robin fühlte sich betäubt – vielleicht waren es die Nachwirkungen der elektrischen Vibrationen … Er stand stumm da und rieb sich die Hände. Er spürte schmierige Massen darauf: Klebstoff vom Zaun, der durch die elektrischen Schwingungen aktiviert worden war und nun rasch trocknete.
Der Wachbeamte sah ihm zu. Fast sah es so aus, als hätte er Mitleid mit Robin. »Mit Benzin geht das wieder weg. Gehen Sie nach Hause«, riet er. »Und gewöhnen Sie sich an, auf Warntafeln zu achten!«
Robin blieb nichts anderes übrig, als sich davonzumachen. Er brauchte lange, um seine Gedanken zu ordnen, und auch als er sich wieder in seiner Wohnung befand, war an Schlaf nicht zu denken. Und wo war Michèle? Doch je länger er grübelte, umso mehr schob sich eine andere Information des Beamten in den Vordergrund: dass Michèle und Jan im selben Haus wohnten. Das könnte eine Antwort auf Fragen sein, die sich Robin schon früher gestellt hatte – zum Beispiel, wieso sie eine so bevorzugte Position im Direktionsbüro einnahm und wieso sie in einer so großen und teuren Wohnung lebte …
Robins Herz schlug rasch und schwer. Es gab nur eine Erklärung: Michèle war die Geliebte des Direktors.
Nach der Geiselnahme
Es hatte seinen Grund, dass die den Sitzungssaal stürmenden Geiselnehmer von Anfang an alles dazu taten, die Diplomaten das Fürchten zu lehren. Sie trugen schwarze Kleidung, die sie wie Partisanen aussehen ließ, Masken – die eigentlich nicht nötig gewesen wären – und gefährlich aussehende Waffen, wo doch einfache Schockpistolen gereicht hätten. Aber mit solchen hätte sich kein vergleichbarer Lärm hervorrufen lassen – die zur Decke gefeuerten Schüsse waren zweifellos ein wirksames Moment der Einschüchterung. Das alles waren zweckgerechte Maßnahmen psychologischer Kriegsführung, und so wie die Sache ablief, waren da Fachleute am Werk …
So wurde jede Hoffnung darauf, dass die angedrohte Gewalt vielleicht gar nicht ausgeübt würde, rasch im Keim erstickt. Die Geiseln mussten sich an der linken Seitenwand in einer Reihe aufstellen, und als Alvaro diesem Befehl nur zögernd nachkam, erhielt er einen Stoß in den Rücken, der ihn zu Boden warf; von da an zeigte er sich gefügig.
Jurema, oder Ezequiel, der Anführer dieser Truppe, der Einzige, der außer dem Kampfmesser am Gürtel keine weitere Waffe trug, hatte es sich auf einem Stuhl bequem gemacht. Er hielt eine Liste in der Hand und rief einen Delegierten nach dem anderen auf. Die Genannten mussten vortreten und den Inhalt ihrer Taschen in einen Korb werfen. Sie wurden nach versteckten Gegenständen abgetastet und traten dann in die Reihe zurück.
Als Owen Downfield, der aus London stammende Delegierte, aufgerufen wurde, setzte er zu einer seiner Reden an. »Im Namen meiner Regierung protestiere ich gegen diese Behandlung. Ich werde diesen Vorfall …«
Der Anführer gab einem seiner Soldaten einen Wink. Dieser entriss dem alten Diplomaten die Krücke, packte ihn am Nacken und zwang ihn in die Knie.
»Hör zu, Alter«, sagte der Anführer, ohne seine bequeme Haltung im Stuhl zu verändern. »Du hast nur zu reden, wenn du gefragt bist. Und auf deine Regierung pfeife ich.«
Er stand auf und trat vor den immer noch knienden Downfield. Eine rasche Ausholbewegung, und dann versetzte er ihm zwei Schläge links und rechts auf die Wangen. Danach wischte er sich die Hände an einem Taschentuch ab, als hätte er sich beschmutzt, und setzte sich wieder. Der alte Diplomat war zu Boden gesunken, seine Nachbarn in der Reihe richteten den Stöhnenden auf.
»Wir sind hier, um das in Ordnung zu bringen, was ihr vermasselt habt. Es geht um die Ordnung der Welt. Da war ein Antrag gestellt worden, der Vorteile für die gesamte Menschheit mit sich gebracht hätte, und ihr habt ihn abgelehnt. Ihr bekommt nun die Gelegenheit, euren Fehler zu revidieren. Ihr werdet diesen Saal nicht verlassen, ehe jeder von euch seine Stimme für die Annahme des Antrags abgegeben hat.« Er machte eine kurze Pause, während der er die an der Wand stehenden Männer fixierte. »Jetzt habt ihr Zeit, es euch zu überlegen. Habt ihr alle verstanden?«
Als er keine Antwort bekam, gab er seinen Männern einen Wink: Sie hoben ihre Waffen und richteten sie auf die Geiseln.
»Habt ihr jetzt verstanden?«, fragte der Mann, der sich Ezequiel nannte. »Ich möchte eine deutliche Antwort hören.«
Und jetzt tönte ihm laut und deutlich ein »Ja« entgegen.
»Ich übergebe das Kommando meinem Stellvertreter Rocco.«
Ein stämmiger Soldat trat vor und grinste die Diplomaten an. Das war aber kein Zeichen von Freundlichkeit – mit seinem breiten Gesicht und den schwarzen Bartstoppeln sah er bedrohlich aus.